Das Zaubergift
bis dato gesehen hatte. Orgks, Halb-Orgks, Trolle, Drachen, Zauberer, namenlose Bestien, kurzum alles, was sie unter der Herrschaft von Bergamotz dem Fürchterlichen hatten sammeln können, stürmte nach Westen. Er war der letzte große Orgk-Kriegsherr, dem es gelang, alle ihre Stämme zu vereinen. Und sie rückten gemeinsam gegen uns vor, um uns vom Antlitz der Erde zu fegen. Infolgedessen endete der Krieg zwischen Turai, der Liga der Stadtstaaten und Nioj recht unvermittelt. Stattdessen schlossen wir ein befristetes Bündnis und versuchten in einem verzweifelten Feldzug, die gewaltige orgkische Armee zurückzuwerfen. Hauptmann Rallig und ich kämpften plötzlich Seite an Seite mit irgendwelchen Niojanern, die noch vor ein paar Tagen mit allem Nachdruck versucht hatten, uns zu massakrieren.
Die Orgk-Kriege dauerten lange und forderten einen hohen Blutzoll. Die Kämpfe wüteten monatelang an unseren Grenzen und vor unseren Städten. Mit der Hilfe der Elfen gelang es uns schließlich, die Orgks zurückzuwerfen, aber um welchen Preis! Die Bevölkerung einiger Stadtstaaten hat sich nie wieder von diesen Verlusten erholt, während andere einstmals schöne, blühende Städte nur noch verlassene Ruinen sind. Seitdem herrscht ein höchst wackliger Friede. Wir haben sogar einen Friedensvertrag mit den Orgks unterschrieben und Botschafter ausgetauscht, aber dieser Zustand wird nicht lange anhalten. Das tut er nie. Orgks und Menschen hassen einander einfach zu sehr. Die Orgks verschwenden im Augenblick ihre Kräfte damit, sich gegenseitig zu dezimieren, aber sobald ein großer Führer auftaucht, der mächtig genug ist, sie zu vereinen, marschieren sie wieder.
Diese Hügelketten sind ein karges Land. Dafür ist es aber kühler als in der Stadt. Vermutlich ein ganz passabler Ort für Meditationen, denke ich. Ich verscheuche diese Kriegserinnerungen aus meinen Gedanken und konzentriere mich auf die Erzählung des Mönchs.
Die meisten religiösen Einrichtungen dort oben sind Ableger der Wahren Kirche, der einen staatlichen Religion in Turai. Aber einige wenige Klöster unterstehen nicht ihrer Autorität. Da Turai in religiösen Fragen freizügiger ist als einige andere Stadtstaaten, ist das normalerweise kein Problem, vorausgesetzt, sie laufen nicht herum, verbreiten Häresien oder sorgen für Unruhe. Wenn das vorkommt, entsendet der König ein Bataillon und treibt die Andersgläubigen aus dem Land. So freizügig sind wir in religiösen Dingen dann doch wieder nicht.
Vom Wolkentempel habe ich noch nie zuvor gehört.
»Wir sind erst vor kurzer Zeit gegründet worden«, erklärt der Mönch. »Bis zum letzten Jahr waren die anderen Mönche und ich Brüder des Sternentempels. Unglücklicherweise gab es dort eine Glaubensspaltung. Ich will nicht in die letzten Einzelheiten gehen, aber die Meinungsverschiedenheiten waren rein theologischer Natur. Mögen diese Fragen für uns auch von größter Wichtigkeit sein, so sind sie letztlich nicht wirklich bedeutsam.«
»Lasst mich ruhig entscheiden, was ich bedeutsam finde.«
»Wie Ihr wollt. Der Disput drehte sich um die Natur der Konsubstanzialität, die wiederum die genaue Art und Weise betrifft, wie sich die Göttlichkeit zur Substanz verhält, aus der die vergängliche Welt gemacht ist.«
»Ah. Verstehe. Ehm, gut, überspringen wir die Einzelheiten. Was ist passiert, nachdem Ihr angefangen habt, Euch zu streiten?«
»Eine große Verbitterung entstand und führte zu einer Abspaltung unter uns. Es bestand sogar die Gefahr eines blutigen Kampfes. Wir sind, wie Ihr vielleicht wisst, sowohl Mönche als auch Krieger. Die Fähigkeit zu kämpfen gehört zu unserer geistigen Ausbildung, und sie diszipliniert uns für die Anforderungen unseres Glaubens und der Opferdienste. Jedenfalls: Um diesen schrecklichen Disput zu einem Ende zu bringen, habe ich zusammen mit einigen anderen den Sternentempel verlassen und unser eigenes Kloster gegründet. Weit weg von unseren ehemaligen Brüdern.«
Heretius war nach Abt Vexial dem Sehenden der zweithöchste Mönch in dem Orden des Sternentempels gewesen. So wie Heretius die Sache schildert, verlief diese Abspaltung relativ glatt, aber ich hege da so meine Zweifel. Selbst wenn ein Abt die Vorstufe eines Heiligen sein mag, mag er es bestimmt trotzdem nicht, wenn plötzlich die Hälfte seiner Mönche verschwindet und jemand anderen zum Obermönch kürt.
Daher hatte ich also meine Zweifel, was die wahre Ursache für dieses Schisma gewesen sein könnte.
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