Das Zeichen der Schwalbe (German Edition)
Bissen und jedem Schluck Wein fürchtete sie, vergiftet zu werden. In jeder dunklen Ecke im düsteren Haus ihres Vormundes vermutete sie Böses, das dort lauerte. Die Albträume ihrer Kindheit kehrten zurück und die schlaflosen Nächte forderten ihren Tribut, so wie damals, als sie klein war. Sie konnte nicht essen und nicht schlafen und wurde krank – erst teilnahmslos, dann fiebrig, erst unwillig, dann unfähig, sich von ihrem Bett zu erheben. Tage glitten unmerklich in die Nacht über. Das Fieber wurde schlimmer, ihre Gelenke schmerzten und brannten. Einmal blickte sie auf und sah die Frau ihres Vormundes, die sich mit einem Rasiermesser in der einen Hand und einer Strähne von Esperanzas Haar in der anderen über sie beugte. Esperanza versuchte zu schreien und verlor das Bewusstsein.
Als sie schließlich wieder zu sich kam, tupfte ein traurig dreinblickendes Dienstmädchen ihr das Gesicht mit Rosenwasser ab. Esperanzas Kopf fühlte sich seltsam an. Als sie mit der Hand darüber fuhr, bemerkte sie, dass man ihr das Haar abgeschoren hatte. »Wegen des Fiebers«, flüsterte das Mädchen. »Aber es wächst nach. Ich bin Mar í a, Euer neues Mädchen. Don Jaime schickt mich. Er hat einen Plan, aber erst müsst Ihr Euch Mühe geben, wieder gesund zu werden.«
Verwundert stellte Esperanza fest, dass auch ihrem Vormund und seiner Frau daran gelegen schien, ihre Genesung zu fördern. Sie schickten nach einem berühmten Arzt, der alle möglichen Stärkungsmittel empfahl. Sie bekam Fleischbrühe mit Eiern darin, Brot aus feinem Mehl und gewürzten Honigwein und ständig fragte man sie, was sie essen wolle, und drängte sie, sie solle doch sagen, was sie am liebsten aß. Das Merkwürdigste war, dass die Frau ihres Vormunds jeden Tag in ihr Zimmer kam, um ihr vorzulesen, aus dem tristesten Buch, das man sich vorstellen konnte, wie Esperanza dachte. Es war ein langweiliges Werk über das Wesen der Frau und ihren Pfad der Tugend, eine Litanei über die Unvollkommenheit der Töchter Evas, die die Sünde in die Welt brachten. Durch ihre Minderwertigkeit und spirituelle Schwäche, so hieß es da, waren Frauen zu nichts fähig, weshalb sie sich dem Vater, den Brüdern und dem Ehemann zu unterwerfen hatten. Mit Nachdruck und vielsagenden Blicken las die Frau von Esperanzas Vormund das Kapitel über das Gebaren und die Pflichten einer christlichen Ehefrau vor.
Schließlich konnte die Frau des Vormunds der Versuchung nicht mehr widerstehen, Esperanza zu berichten, dass sie durch die Güte ihres Vormunds einem Edelmann zur Frau versprochen sei, der bereit sei, über die Schande ihrer Geburt hinwegzusehen. Esperanza vermutete gleich, dass dies nicht mit rechten Dingen zuging, und fragte nach dem Namen ihres zukünftigen Ehemannes. Don C é sar Guzman, lautete die knappe Antwort.
Mar í a, die Esperanza eine Schüssel mit Suppe brachte, flüsterte: »Ich frage Don Jaime.« Sie blickte der Frau des Vormunds nach, die gerade die Zimmertür hinter sich schloss, und rollte die Augen. »Trinkt dies hier.«
Einige Tage später beugte sich Mar í a über Esperanza und zischte ihr ins Ohr: »Don Jaime sagt, es ist besser, den Satan persönlich zu heiraten als Don C é sar Guzman. Er ist alt und er hat schon vier Frauen beerdigt, alles reiche Waisen wie Ihr. Er ist mit einer Krankheit seiner Weichteile gestraft, mit Pusteln und Schwellungen und einem übelriechenden Ausfluss, und seine Versuche, einen Sohn zu zeugen, verursachen ihm schreckliche Leiden. Der Wunsch nach einem Sohn hat seine Seele aufgefressen. Er hat seine Frauen gequält, als sie nicht schwanger wurden, und nach ein paar Jahren sind sie dann gestorben. Don Jaime sagt, dass Don C é sar sie vergiftet hat. Er glaubt, dass Euer Vormund einen Handel mit ihm abgeschlossen hat und Euch Don C é sar zusammen mit einer großen Mitgift anbietet, dafür dass er keine Fragen über Eure Mutter stellt. Euer Vormund wird den Rest Eures Vermögens behalten und Don C é sar wird Euch am Leben lassen, solange Ihr ihm Kinder schenkt. Euer Vormund und Don C é sar wollen die Heirat vorantreiben und Ihr müsst so bald wie möglich fliehen.«
»Fliehen? Aber wie? Die Tore sind verriegelt, meine Gouvernante lässt mich Tag und Nacht nicht aus den Augen und die Wache am Tor würde mich zurückhalten, wenn ich das Haus verlassen wollte. Und wo könnte ich mich verstecken?«
»Don Jaime hat einen Plan ersonnen, aber Ihr müsst mich mitnehmen. Die Frau Eures Vormunds ist die grausamste
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