Das Zeitalter der Fuenf 03 Goetter
er da war. Schon bald würde sie fortgehen können.
Aber bevor sie das tat, hatte sie noch einige Fragen an Jade.
Als Jade zurückkehrte, war der Krug mit gemahlenen Blättern fast voll. Die andere Frau sprach kein Wort, während sie ihre Eimer neben dem Bett abstellte und sich setzte. Dann nahm sie aus einem Eimer einen Klumpen, der aussah wie ein Stein, und machte sich daran, Bröckchen von einer weißlichen Substanz in einen Krug zu kratzen.
»Was ist das?«
»Gift«, antwortete Jade. »Zumindest wenn man mehr als eine winzige Dosis davon nimmt.«
»Hast du oft Verwendung für Gifte?«
»Überraschend selten. Ich habe während der letzten tausend Jahre nur dreimal Gift benutzt. Es ist die Art von Tod, die man ausschließlich für wahrhaft unangenehme Menschen reserviert.«
Die andere Frau sprach so unbefangen, dass Auraya sich nicht sicher war, ob sie scherzte oder nicht. Sie hielt inne, dann kam sie zu dem Schluss, dass sie es überhaupt nicht wissen wollte.
»Du lebst also schon tausend Jahre?«, fragte sie stattdessen.
»Mindestens.«
»Du weißt es nicht mit Bestimmtheit?«
»Nein. Früher habe ich mitgezählt, aber nach einer Weile wurde es schmerzhaft offenkundig, dass die Kalender, mit deren Hilfe die Menschen die Jahre zählten, falsch waren, und dann haben sie die Neuberechnung gründlich verpfuscht. Ich bin so viel umhergezogen, dass ich den Überblick verlor, aber zu dem Zeitpunkt schien es mir auch keine Rolle mehr zu spielen.«
»Wie ist es denn so, wenn man so lange lebt?«
Jade blickte zu Auraya auf und zuckte die Achseln. »Nicht so aufregend, wie du vielleicht glaubst«, sagte sie. »Die meiste Zeit denkst du gar nicht darüber nach. Deine Gedanken drehen sich um unmittelbare Belange: was du heute essen wirst, wo du schlafen wirst. Du nimmst das Wissen, das du über die Jahre gesammelt hast, für selbstverständlich. Wenn du es brauchst, ist es da, und oft überlegst du gar nicht, wann du dieses Wissen erworben hast. Ab und zu geschieht etwas, das dich innehalten und über die Vergangenheit nachsinnen lässt, und das sind die Augenblicke, in denen du dir deines Alters am deutlichsten bewusst bist. Du nimmst Veränderungen wahr, die niemandem sonst auffallen, nicht einmal den Geschichtsschreibern. Außerdem siehst du, dass manche Dinge sich niemals ändern. Die Menschen werden sich immer verlieben und ihre Liebe wieder verlieren. Ehrgeizige Männer und Frauen werden immer nach Macht streben. Habgierige Männer und Frauen werden immer Reichtum horten. Sterbliche werden Sterbliche sein.«
»Dann können Unsterbliche sich also auf eine Art und Weise ändern, wie sie Sterblichen nicht offensteht?«
Jade blickte versonnen drein. »Ja und nein. Unsterblichkeit macht uns nicht klüger. Erfahrung dagegen durchaus. Wir versuchen, den gleichen Fehler nicht zweimal zu machen, aber Erinnerungen verblassen, und manche Erinnerungen verblassen schneller als andere. Und es gibt immer neue Fehler, die man machen kann.« Sie verzog das Gesicht. »Manchmal wollen wir den gleichen Fehler machen. Liebe zum Beispiel. Indem sie sich verlieben, riskieren Sterbliche immer großen Schmerz; für Unsterbliche ist dieser Schmerz eine Gewissheit. Entweder die Liebe stirbt, oder derjenige, den du liebst, tut es.«
Ein Anflug von Bitterkeit hatte sich in Jades Stimme geschlichen. Auraya sah sie mitfühlend an.
»Lohnt es sich, den Schmerz zu ertragen?«
Jade lächelte freudlos. »Ja, solange du nicht allzu oft leidest. Ich habe Kinder geboren und sterben sehen. Das war noch schmerzlicher, und doch habe ich es mehr als einmal getan.«
»Dann können Unsterbliche also Kinder bekommen?«
»Natürlich.« Jade runzelte die Stirn. »Warum auch nicht?« Dann weiteten sich ihre Augen, als sie plötzlich begriff. »Während du eine Weiße warst, haben die Götter dafür gesorgt, dass du nicht empfangen konntest, nicht wahr?«
Auraya zuckte die Achseln. »Wir könnten uns nicht ganz und gar unserer Arbeit widmen, wenn wir Kinder bekommen und großziehen würden.«
»Die Götter halten nicht viel von Freizeit, wie? Aber wie dem auch sei, Kinder würden dich verletzbar machen. Glaub mir, ich weiß, wie verletzbar Kinder dich machen können, wenn man sie gegen dich benutzt.«
»Was ist passiert?«
Jade schüttelte den Kopf. »Ich möchte lieber nicht darüber sprechen. Manche Erinnerungen bleiben besser begraben.«
Auraya nickte und überlegte, wie sie das Thema wechseln konnte. »Waren deine Kinder
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