Das Zeitalter der Fuenf 03 Goetter
Reivan gelungen, sich mit ihrer erwählten Aufgabe fast den ganzen Tag lang abzulenken. Nur gelegentlich wanderten ihre Gedanken in die vergangene Nacht zurück, und dann erschien es ihr eher ein Traum zu sein denn eine Erinnerung. Diese Augenblicke waren angenehm, wurden ihr aber jedes Mal verdorben, wenn sie sich darum sorgte, was Imenja denken würde. Oder sagen. Oder tun.
Sie könnte mich zum Beispiel entlassen, dachte Reivan. Oder mich als unbefähigte Götterdienerin an einen entlegenen Ort schicken, wo ich den Rest meiner Tage damit zubringen werde, Schriftrollen zu übersetzen. Nein, das Übersetzen von Schriftrollen wäre zu vergnüglich. Sie würde mir wohl eher irgendeine unangenehme niedere Arbeit oder eine langweilige Aufgabe in der Verwaltung zuweisen.
Es war kindisch und überdies nutzlos gewesen, dass sie Imenja den ganzen Tag aus dem Weg gegangen war, und es hatte ihr nur einige zusätzliche, angsterfüllte Stunden bis zu der unausweichlichen Konfrontation verschafft. Als sie ihre Arbeit beendet hatte und die Schatten begannen, die Stadt einzuhüllen, schleppte sie sich zurück ins Sanktuarium.
Alles war still, als sie die Treppe erreichte, über die sie zu ihren Räumen gelangen würde. Sie hielt inne und blickte durch einen Bogengang in den dahinterliegenden Innenhof. Das Zwielicht hatte den Hof in einen bläulichen Schein getaucht, nur an einigen Stellen warfen Lampen orangefarbene Seen auf das Pflaster.
Wird Nekaun heute Nacht wieder zu mir kommen?, fragte sie sich. Ihr Herzschlag beschleunigte sich. Ich hoffe es, aber … ich bin müde. Sie trat in den Bogengang und lehnte sich an die Wand. Es war so friedlich hier. Ganz allmählich lösten sich die Knoten der Anspannung in ihr.
Vielleicht wird es Imenja ja nichts ausmachen, überlegte sie. Vielleicht wird es sie und Nekaun sogar veranlassen, ihre Meinungsverschiedenheiten beizulegen. Ich könnte diejenige sein, die unbeabsichtigterweise Frieden zwischen der Ersten und der Zweiten Stimme stiftet.
Sie schnaubte leise.
Höchst unwahrscheinlich! Was weiß ich schon davon, wie man Meinungsverschiedenheiten beilegt oder Frieden stiftet? Es war schon schwer genug, die Denker dazu zu bringen, meine bloße Existenz wahrzunehmen, und sie haben mich bei der ersten Gelegenheit hinausgeworfen. Die Reaktion der Götterdiener auf mich, als ich seinerzeit hierherkam, ließ keinen Zweifel daran, dass sie fanden, ich würde nicht zu ihnen gehören. Ich habe noch immer nicht einmal Freunde, welche Chance habe ich also, die Kluft zwischen mir und den anderen zu überwinden?
»Eine Freundin hast du«, erklang eine vertraute Stimme hinter Reivan.
Sie drehte sich um und sah Imenja entschuldigend an.
»Zweite Stimme. Ich … äh … ich … ich entschuldige mich dafür, dass …«
Imenja legte zwei Finger auf die Lippen, dann bedeutete sie Reivan, ihr in den Innenhof zu folgen. Sie betrachtete einen der Teiche. Das Wasser kräuselte sich, dann bildete sich eine Fontäne, und Tropfen fielen durch die Luft. Das Geräusch hallte im Hof wider. Imenja setzte sich auf eine der Bänke in der Nähe.
»So. Ein klein wenig Ungestörtheit. Ich würde dir allerdings davon abraten, die Stimme zu erheben.«
Reivan nickte, und Imenja klopfte auf die Bank.
»Setz dich. Wie du weißt, müssen wir reden.« Als Reivan gehorchte, lächelte Imenja. »Wofür willst du dich entschuldigen?«
»Dafür … dafür, dass ich mich vor dir versteckt habe.«
»Es war albern von dir, aber ich sehe, dass du das weißt. Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben, weil du Nekaun in dein Bett gelassen hast, Reivan. Es ist kaum etwas, wofür man sich schämen müsste.«
»Ich weiß, aber...«
»Aber?«
»Du und er...«
Imenja rümpfte die Nase. »Wir waren in letzter Zeit nur selten einer Meinung.« Sie hob die Schultern. »Das ist eine Angelegenheit zwischen uns beiden und sollte dich nicht daran hindern, dein Vergnügen zu suchen, wann immer du es finden kannst. Vergnügen ist etwas, das einem Menschen nicht so oft begegnet, wie es das tun sollte.«
»Da kommt noch ein ›Aber‹«, sprudelte Reivan hervor. »Ich kann es in deiner Stimme hören.«
Imenja lachte leise. »Ja, es gibt ein ›Aber‹.« Sie holte tief Luft, und alle Heiterkeit verschwand aus ihren Zügen. »Es ist möglich, dass Nekaun dir tatsächlich Zuneigung entgegenbringt. Ich möchte in diesem Punkt deine Hoffnungen nicht zunichtemachen. Es besteht jedoch auch die Möglichkeit, dass er dich lediglich
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