Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
angenommen. Er konnte nur noch eingetrübt sehen, und die gebrochene Nase entstellte ihn. Er hatte als Schauspieler gearbeitet, man hatte ihn in einer TV-Serie als den attraktiven älteren Landadeligen besetzt, und als er wieder aus dem Krankenhaus kam, hatte ihn der Produzent längst aus der Serie rausschreiben lassen. Sean Butler sollte Schmerzensgeld zahlen und die Kosten für eine kosmetische Operation übernehmen, aber zunächst wanderte er für fünf Jahre hinter Gitter. Sein Vater zahlte einen Teil der Schmerzensgeldforderungen ab, aber es war nur ein geringer Teil. Eine vorzeitige Entlassung auf Bewährung kam nicht in Frage, da er im Gefängnis einen Mithäftling, der ihn angeblich sexuell belästigt hatte, zusammenschlug.«
Ich schloss die Augen, auch wenn ich mir lieber die Ohren zugehalten hätte.
»Als er mit dreißig entlassen wurde«, fuhr Mahoney fort, »schien seine kriminelle Laufbahn vorüber. Er ging nach England, um dort bei verschiedenen Werften als Tischler zu arbeiten. So lernten Sie ihn auch kennen, wenn ich mich recht erinnere. Sein Vater zahlt bis heute immer noch die Forderungen des Schauspielers ab.« Er machte eine kleine Pause. »Deshalb haben wir Sie nach alten Freunden gefragt. Hat er wieder Kontakt zu seiner Vergangenheit aufgenommen?«
Ich saß bestimmt ein paar Minuten still da und wusste nicht, was ich zu all dem sagen sollte. Durch meinen Kopf schossen Gedanken wie: Das stimmt nicht. Das denken die sich aus. Das ist ein anderer Sean Butler. Ich träume gerade. Der Mann, den ich liebe, ist kein Krimineller. Aber irgendwie wusste ich auch, dass es die Wahrheit war, und ich fragte mich, ob ich von Anfang an so etwas gespürt und ihn deshalb nie zu seiner Vergangenheit befragt hatte. Ich hatte ihn erzählen lassen, wenn er das wollte, aber ich hatte keine Fragen gestellt. Ich liebte ihn einfach so, wie er war, liebte, was ich von ihm kannte und wusste. Ich hatte viel von meiner Zeit in Deutschland und den USA geredet. Einmal wollte ich wissen, wo er schon überall gewesen war, und da hatte er nur gesagt: »Nie von der Insel runtergekommen.« Er hatte gelacht, aber wahrscheinlich wusste ich in dem Moment schon, dass ich nur das über ihn wissen wollte, was er mir von sich aus erzählte.
Irgendwann raffte ich mich auf, Mahoney anzusehen und zu sagen: »Haben Sie das alles auswendig gelernt?«
»Ich habe ein hervorragendes Gedächtnis«, sagte er gar nicht eitel.
»Sie haben mir besser gefallen, als Sie nichts gesagt haben.«
»Ja, das sagt man mir oft.«
»Um was ging es in Ihrem Streit?«, fragte Reese. »Was war an dem Montagabend, bevor Ihr Freund verschwand?«
Ich hob erschöpft die Schultern und wiederholte meine Lüge. »Es war nichts. Ich sagte Ihnen doch schon, es ging um meine Arbeit. Er fand, ich hätte zu wenig Zeit für ihn, und ich meckerte an seinen Schichten herum und wollte wissen, warum er die nicht einfach anders legen lassen konnte. Von seiner Vergangenheit wusste ich wirklich nichts.«
»Und Ihr Vater?«
Ich musste lachen. »Mit Sicherheit auch nicht, sonst hätte er ihn nie für sich arbeiten lassen. Nicht, weil er im Gefängnis war, sondern wegen der Einbrüche. Ich denke, die Körperverletzung wäre ihm egal gewesen, aber einen Dieb hätte er nicht in seine Nähe gelassen.«
Sie sahen ein, dass ich ihnen nicht mehr erzählen konnte, und verschwanden irgendwann.
Jetzt liege ich wach und warte, was als Nächstes passiert. Als Kind dachte ich, wenn ich ganz fest an jemanden denke, kann derjenige meine Gedanken hören. Ich schickte dann Nachrichten an meinen Großvater, den ich sehr liebte. »Bitte lass mich bei dir wohnen«, versuchte ich ihm mitzuteilen. Schon damals fühlte ich mich nicht wohl bei meinen Eltern, aber mein Großvater, der ganz in der Nähe in einem kleinen Küstendorf in Cornwall lebte, war toll. Er erzählte wunderbar lustige Geschichten, von sich, von meinem Vater, als er noch ein kleiner Junge war (und ich staunte darüber, denn ich konnte mir nie vorstellen, dass mein Vater einmal ein frecher kleiner Kerl gewesen war), mit ihm war alles so unbeschwert und leicht. Er kochte mir Kakao – meine Eltern kochten mir nie Kakao, sie ließen ihn kochen. Er erklärte mir die Natur, zeigte mir die Sterne, brachte mir Klavierspielen bei. Er war der großzügigste, herzlichste und liebenswerteste Mensch, den ich kannte. Ist es bis heute. Er starb, als ich neun war. Der traurigste Tag in meinem Leben.
Ich denke jetzt an ihn, weil ich versuche,
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