Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
alten Kollegen um. Wenn Sean dort ist, werde ich ihn finden.
Auszug aus Philippa Murrays Tagebuch
Samstag, 1. 5. 2004
Kein Sean. Der Detektiv ist ein Idiot. Habe mit ihm gesprochen. Er hatte nur sehr vage Informationen, nicht mal Fotos oder einen Namen. Der einzige Schotte, der bei Steinway im letzten halben Jahr eingestellt wurde, ist Mitte vierzig und arbeitet in der Personalabteilung. In den Werkstätten haben sie einen Neuen, Ende zwanzig, dunkelhaarig, Ire. Er ist von oben bis unten tätowiert und hat nicht einmal von Weitem Ähnlichkeit mit Sean. Er ist viel kleiner, dafür sehr viel breiter, nicht dick, aber muskulös. Sean ist groß und schlank. Dafür habe ich Tyrone getroffen.
Einer der wichtigsten Menschen war für mich Tyrone. Er arbeitet seit mindestens dreißig Jahren bei Steinway. Ein großer schwarzer Mann mit riesigen Händen und Fingern so geschickt wie die eines Konzertpianisten. Tyrone fertigt den Rahmen, und darauf ist er wahnsinnig stolz. Er behauptet, er könnte jeden Flügel, den er je gebaut hat, am Klang erkennen, und das Fertigungsjahr dazu. Es gibt niemanden, der ihm das nicht glaubt. So ist Tyrone. Ich wartete auf ihn, bis er Feierabend hatte. Wir setzten uns auf den Boden und rauchten eine Zigarette, ganz wie früher. Dabei erzählte ich ihm meine Geschichte.
»Der würde niemals hier arbeiten«, sagte Tyrone.
»Warum nicht?«
»Wenn er vor dir wegläuft, wird er bestimmt nicht dahin gehen, wo du jahrelang gelebt hast und dich jeder noch kennt.«
Natürlich hatte er recht. Im Urwald der wilden Theorien, die in meinem Kopf wucherten, war offenbar alles möglich. Ich wünschte, ich hätte mehr von Tyrones Klarheit.
»Außerdem würden wir ihn hier nie arbeiten lassen.«
»Weil er im Gefängnis war?«
»Nein. Weil er seine Arbeit nicht liebt.«
»Er hatte nur einen Aushilfsjob bekommen.«
»Genau. Wer seine Arbeit liebt, der arbeitet. Vielleicht muss man manchmal jobben, aber dann arbeitet man trotzdem weiter. Erinnerst du dich noch an Vojislav?«
»Den Lackierer?«
»Er hat eine Weile Zeitungen ausgeliefert, weil er keinen Job als Lackierer gefunden hat. Dieser Sean, das ist einer, der fährt dann eben Zeitungen aus. Vojislav hat sich nach dem Zeitungenausliefern in die Garage von seinem Schwager gestellt und alte Möbel aufpoliert. Repariert, abgeschliffen, lackiert, bei eBay reingestellt. Und puff!, hat er gutes Geld damit verdient und konnte aufhören mit den Zeitungen. Und irgendwann ist er bei uns gelandet.«
»Verstehe. Ein Leib-und-Seele-Lackierer.«
»Einer, der ganz krank wird, wenn er nicht mit dem arbeiten kann, was seine Bestimmung ist. Wie fühlst du dich, wenn du monatelang nicht wenigstens ab und zu in die Nähe einer Tastatur darfst? Kein Holz riechst? Keine Saiten siehst?«
»Du hast mich überzeugt. Er ist nicht hier. Aber vielleicht ist er in New York.«
»Warum, was will er hier?«
»Weglaufen, was weiß denn ich.«
»Und ich sage dir, er würde sich nicht an einem Ort verstecken, der so viel mit dir zu tun hat.«
»New York ist riesig!«
»Von Schottland aus ist es nur ein Punkt auf der Landkarte, neben dem dein Name steht.«
12.
David Bolitho saß neben ihm, als Cedric die Verbindung über Skype herstellte. Bolitho beschwerte sich nicht zum ersten Mal heute darüber, dass sich ihm der tiefere Sinn eines Anrufs bei dieser Frau nicht erschließe. Lillians Anwälte würden sich um sie kümmern, die Behörden würden über das Sorgerecht entscheiden, eine kleine Summe stünde dem Jungen aus dem Nachlass des Vaters zu, wo sei das Problem. Cedric brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er wollte nicht mit einem Fremden darüber diskutieren, nicht mit einem Mann, der dafür bezahlt wurde, Profite zu maximieren und Eigentum zu schützen, Verträge zu prüfen und Rechtslagen zu klären. David Bolitho wurde natürlich auch dafür bezahlt, Cedrics Interessen zu vertreten, und Cedric hatte keine Lust, diese zu diskutieren. Bolitho würde versuchen, ihm etwas anderes einzureden. Auch dafür wurde er bezahlt – um Cedric vor einer möglichen Fehlentscheidung zu bewahren. Nur dass Cedric wusste, er würde keine Fehlentscheidung treffen. Er wollte nur, dass der Sohn seines Vaters bekam, was er brauchte.
Er selbst hatte es nicht bekommen. Als Kind nicht, später nicht. Er wollte nicht, dass der kleine William einmal dieselben Probleme bekommen würde wie er. Nur, weil er anders war und niemanden hatte, der ihn unterstützte, für ihn da war, in
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