Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
ich so mit ihr sprach. Sie lachte. »Das ist kaum die offizielle Version, Pippa.«
Aber die Wahrheit.
Wir setzten uns auf eine Parkbank und sahen zu, wie die anderen Patienten gemächlich vorbeitrotteten oder sich in Rollstühlen vom Pflegepersonal herumschieben ließen.
»Ich habe dir noch gar nicht von meiner Tante erzählt«, sagte Nicky. »Judy. Sie ist jetzt fünfundfünfzig, hat drei Kinder und war elf Jahre verheiratet. Dann verschwand ihr Mann Leslie. Eigentlich waren sie zu diesem Zeitpunkt schon getrennt. Er hatte sie betrogen, sie hatte ihn rausgeworfen, alle zwei Wochen durfte er seine Kinder sehen. Ein drei viertel Jahr später war Leslie verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt. Seine Wohnung war leergeräumt, seine Konten ebenso. Niemand schien etwas zu wissen. Tante Judy war lediglich bekannt, dass er mit seiner neuen Freundin, dem Trennungsgrund, zusammenziehen wollte, aber auch diese war nicht ausfindig zu machen. Er meldete sich einfach nie wieder. Nicht an Weihnachten, nicht an den Geburtstagen. Schrieb nie eine Karte, rief nie seine Kinder an. Es war, als sei er gestorben. Neun Jahre später bekam meine Tante einen Brief von einem Ralph. Er sagte, er sei ein alter Jugendfreund von Leslie, es gehe ihm gut und er wollte mit ihr reden. Ob sie sich zunächst bei Ralph melden könnte. Das tat sie, und so erfuhr sie, wo ihr Mann neun Jahre lang gewesen war.«
»Wo? Bei Ralph? Hat er spät seine Homosexualität entdeckt und nicht gewagt, sich zu outen?«
»Diese Frau, in die sich Leslie verliebt hatte, war Mitglied einer religiösen Sekte. Sie hatte ihn überredet, ebenfalls beizutreten. Leslie hatte sich offenbar schon länger einsam und überfordert gefühlt. Die Kinder, das Haus, sein Job, dazu eine selbstbewusste Frau, die schnell mit ihm ungeduldig wurde. Er schloss sich der Sekte an, mit allem, was dazugehörte. Er gab ihnen sein ganzes Geld, brach alle Kontakte ab, tauchte ganz in deren Welt ein.«
»Scheiße«, sagte ich. »Wieso macht jemand so etwas?«
»Heilsversprechen? Realitätsflucht? Es gibt eine Menge Gründe. Um es kurz zu machen: Nach gut acht Jahren wollte eine Fernsehproduktion eine Undercover-Doku über diese Sekte machen. Ralph ist von Beruf Dokumentarfilmer und Regisseur. Er schleuste sich ein, was sehr gefährlich war. Bei der Gelegenheit traf er Leslie wieder, mit dem er zusammen zur Schule gegangen war. Er tat alles, um Leslie da rauszuholen, was einige Monate dauern sollte. Anwälte mussten eingeschaltet werden, und erst wollte Leslie auch nicht aus der Sekte austreten. Aber dann schien sein Verstand wieder aufzutauen. Ralph zahlte eine Art Lösegeld für Leslie, damit der Spuk endlich ein Ende hatte. Dann päppelte er ihn bei sich zu Hause auf, brachte ihn zu Ärzten und Psychologen, half, um aus Leslie eine halbwegs stabile Persönlichkeit zu machen. Und schließlich meldete er sich bei Tante Judy. Die wollte Leslie natürlich nicht zurückhaben, aber die Kinder lernten endlich ihren Vater kennen – die beiden Kleinen konnten sich nicht mehr an ihn erinnern, der Große hasste ihn einfach nur und brauchte Jahre, um seinen Frieden mit ihm zu schließen. Ja, das ist die Geschichte meiner Tante und ihrem verschwundenen Ehemann.«
»Eine Sekte«, sagte ich langsam. An eine Sekte habe ich nie gedacht. Sean ist nicht der Typ für so etwas. Aber hätte Judy das nicht auch über Leslie gesagt? Es ist eine Möglichkeit. Eine von vielen. Vielleicht passt es doch zu Sean. Er ist unzufrieden, weil er keinen richtigen Job bekommt. Ich gehe ihm mit meiner Eifersucht auf die Nerven. Er fühlt sich mir unterlegen, weil er denkt, dass er mir nichts bieten kann. Seine Vergangenheit hat ihn möglicherweise auch für so etwas empfänglich gemacht, lässt ihn nach Halt und festen Strukturen suchen. Ja, vielleicht passt alles …
»Wie kann man denn herausfinden, ob jemand bei einer Sekte eingetreten ist? Die haben wohl kein Mitgliederverzeichnis online?«
»Ohne einen Anhaltspunkt, welche Sekte es sein könnte, kannst du nichts machen. Du weißt ja nicht mal, wo du mit Suchen anfangen musst. Er könnte im Ausland sein.«
»Er hat doch seine Papiere gar nicht dabei!«
»Wer sagt, dass er unter seinem Namen weiterlebt?«
Ich stand auf und machte mich auf den Rückweg zum Gebäude. »Das heißt also, ich kann nichts tun. Ich muss aufgeben. Vielleicht kommt er in neun Jahren zurück, weil ihn ein Dokumentarfilmer findet. Vielleicht wird seine Leiche irgendwo angespült. Vielleicht
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