Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
werden.
Ich habe so lange nichts mehr geschrieben. Ich konnte nicht und wollte nicht. Die ersten zwei Wochen habe ich mehr oder weniger komplett verschlafen. Ich wurde insgesamt dreimal operiert. Das erste Mal, um die Kugel zu entfernen und die Blutungen zu stoppen. Das zweite Mal, weil sie die Blutungen nicht in den Griff bekamen. Das dritte Mal, um mir die Milz zu entfernen, wegen der anhaltenden Blutungen. Ich bekam Bluttransfusionen, und es hat einige Wochen gedauert, bis meine Werte wieder im Normalbereich waren. Trotzdem fühle ich mich immer noch schwach und matt und – leer. Ich wage kaum, einen Schritt zu gehen. Mein ganzer Bauch fühlt sich an, als sei er nur notdürftig zusammengeflickt, auch wenn ich weiß, dass es nicht stimmt. Die Ärzte hier haben so oft mit mir darüber gesprochen. Sie haben mir alles erklärt, alle Fragen beantwortet. Natürlich, es ist eine Privatklinik, Vater zahlt, ich bekomme die beste Versorgung, die ich mir wünschen kann. Aber die Angst geht nicht weg. Dreimal in der Woche rede ich mit einer Psychologin und mache eine Verhaltenstherapie gegen die Angst, wo ich kleine Aufgaben gestellt bekomme, die ich langsam, aber stetig bewältigen soll. Wenn es nicht besser wird, sagt die Psychologin, sollten wir es mit einem Medikament versuchen. Gegen die Angst und gegen Depressionen.
»Es ist alles Ihre Entscheidung«, sagt sie jedes Mal.
»Ich kann mich nicht entscheiden, ich bin viel zu müde«, sage ich dann jedes Mal, und sie zieht die Augenbrauen hoch und notiert sich, was ich gerade gesagt habe. Glaube ich jedenfalls.
Seit einer Weile bekomme ich keine Schmerzmittel mehr. Die Schmerzmittel haben geholfen, die Gedanken abzustellen. Ich habe nur darüber nachgedacht, was ich als Nächstes esse und wie ich zur Toilette komme, solche Dinge. Jetzt fängt mein Gehirn langsam wieder an zu arbeiten. Ich habe mir im Internet die Meldungen über die Schießerei durchgelesen. »Die falsche Entführung« hieß es da, oder: »Lebt Sean Butler doch noch?« Und: »Werft-Erbin von Entführern angeschossen«. Die üblichen Vereinfachungen und Verfälschungen, die man eben so zu lesen bekommt. Reese hat mir geschrieben. Nicky besucht mich manchmal, sie hat nur einen Streifschuss abbekommen. Die Eltern und Matt kommen samstags, außerdem ruft Matt fast jeden Tag an. Dana und Simon haben eine Karte und Blumen geschickt. Angeblich waren sie auch mal da, aber da hätte ich gerade geschlafen. Es ist weit von Plymouth nach London, mindestens vier Stunden mit dem Auto. Ich wundere mich, dass meine Eltern das wirklich jedes Wochenende auf sich nehmen. Ich hätte es niemals erwartet. Oder für möglich gehalten.
Ach, und Pete schreibt mir ab und zu eine Postkarte. Er schreibt nicht viel, meistens sind es vorgedruckte »Gute Besserung«-Karten, auf die er noch ein paar Zeilen zum Wetter quetscht.
Professor Michael McLean hat mir wieder eine seiner selbstgebastelten Karten geschickt. Diesmal ein Foto von einem wegtauenden Schneemann in einem Garten, um ihn herum wird es bereits ein wenig grün, und der Schneemann sieht schon sehr, sehr zusammengeschrumpelt aus. Jemand hat ihm ein Pappschild aufgesteckt, auf dem steht: »Bis bald!« Ich musste so lachen, als ich das Foto sah, eine Krankenschwester kam sofort hereingelaufen und fragte, ob alles in Ordnung sei. Ich zeigte ihr das Foto, und sie sagte: »Muss ein toller Mann sein.«
»Ich kenne ihn nicht so gut«, sagte ich. In die Karte hatte er außer seinem Namen nichts geschrieben.
»Ein toller, geheimnisvoller Mann«, sagte die Schwester.
»Ich glaube, mit geheimnisvollen Männern bin ich durch«, sagte ich, und da erst schien ihr wieder einzufallen, wie ich hierhergekommen war.
Als Nicky heute Morgen zu Besuch war, sind wir ein paar Schritte durch den Park gegangen. Es ist Teil meiner Verhaltenstherapie, dass ich jeden Tag spazieren gehe, und Nicky hilft mir dabei, dass es immer ein paar Meter mehr werden.
Mittlerweile sucht das ganze Land nach Sean. Die Medien haben wochenlang sein Bild gezeigt. »Jetzt scheint es wahrscheinlicher, dass er Opfer einer Straftat geworden ist«, sagte Nicky. »Vorher sah es nicht danach aus.«
»Wieso ist es jetzt wahrscheinlicher? Weil zwei Junkies auf den Zug aufspringen wollten, um an Geld ranzukommen? Es ist wohl eher so, dass die Presse jetzt eine gute Geschichte hat, an der sie noch eine Weile rumspinnen kann, und deshalb tut ihr so, als würdet ihr an dem Fall arbeiten.«
Nicky nahm es mir nicht übel, wenn
Weitere Kostenlose Bücher