Das zerbrochene Fenster: Thriller (German Edition)
kennengelernt hatte. St. Andrews ist sehr klein. Jemand von der Royal Air Force, war mal hier zum Essen, ließ nicht mehr locker, bis er sie rumgekriegt hatte. Spielte sich alles sozusagen unter meinen Augen ab. Konnte nichts dagegen tun. Schreckliches Gefühl. Sie verschwand also. Ich dachte: Sie ist mit ihm durchgebrannt. Dann kam er eine Woche drauf und fragte nach ihr. Hatte wirklich den Nerv, mich nach ihr zu fragen! Aber dann wusste ich, dass sie nicht bei ihm ist. Ich ging zur Polizei, wir suchten sie. Drei Wochen lang. Fanden sie schließlich auf einem Campingplatz ganz in der Nähe. Die Straße hoch Richtung Boarhills.«
»Ging es ihr gut?«
»Jemand hatte sie ermordet.«
Ich verschluckte mich an der Suppe.
»Essen Sie weiter. Gibt Ihnen einen klaren Kopf. Die Polizei sagte, einer von den Campern hat sie wohl entführt und dann umgebracht, und dann hat wochenlang niemand nach dem Platz geschaut, weil die Saison vorbei war. Der Mörder hat sie vergraben, aber nicht besonders tief. Die Polizei brauchte nicht lange, um ihn zu fassen. Und seinen Freund. Und noch einen dritten. Sie waren zu dritt gewesen. Hatten sie zu dritt vergewaltigt und zu dritt umgebracht und zu dritt vergraben. Erst dachte ich: Warum hat man sie gefunden? Ich will das gar nicht wissen. Es hat eine Weile gedauert, dann war mir klar: Es nicht zu wissen wäre tausendmal schlimmer gewesen. Aber ich verstehe vielleicht ein bisschen mehr als andere Leute, dass Sie wissen müssen, was los war.«
Ich hatte Tränen in den Augen. »John, ich weiß nicht, was ich sagen soll«, war das Einzige, was ich zu sagen fähig war. Die hilfloseste aller Floskeln.
Er schüttelte den Kopf. »Schon in Ordnung, junge Frau. Es ist lange her, und ich konnte mich danach sogar wieder neu verlieben. Wieder nichts für die Ewigkeit, aber es ging weiter. Geht es bei Ihnen weiter?«
Ich erzählte von Michael, und dass wir uns getrennt hatten. Ich erzählte ihm von der ganzen furchtbaren Zeit, was ich Michael alles zugemutet hatte, und dass er trotzdem der wunderbarste, verständnisvollste Mensch auf diesem Erdboden geblieben war.
»Ich glaube, der letzte klare Verstandesrest, den ich hatte, wollte ihm das nicht mehr zumuten. Ich hatte mich so hineingesteigert in die Vorstellung, Sean sei tot und ich schuld daran … Um es kurz zu machen: drei Monate freiwilliger Aufenthalt in der psychiatrischen Anstalt. Ganz freiwillig war der Aufenthalt natürlich nicht, mein Bruder zwang mich dazu, damit ich endlich zur Vernunft kam. Seitdem nehme ich etwas gegen die Depressionen und verpasse so gut wie nie meine Therapiesitzungen. Hört sich gut an, oder? Wahrscheinlich denken Sie jetzt: Hilfe, diese Gestörte, wenn ich das gewusst hätte …« Unsicheres Lachen.
Er brauchte eine Weile für die Antwort. »Ich verstehe das. Ich wache heute noch manchmal auf und denke: Wenn ich ihr keine Vorwürfe gemacht hätte, wäre sie nicht weggelaufen. Ich verstehe das.«
Ich hatte Ethan nicht kommen hören. Er stellte jedem von uns ein Glas Whisky hin. Ich zuckte zusammen, und er legte eine beruhigende Hand auf meine Schulter, ganz kurz nur, bevor er sich wieder zurückzog.
»Großartiger Junge«, sagte John, und ich nickte.
»Wo haben Sie Sean eigentlich genau gesehen?«
»Unten bei den Golfplätzen. Stieg mit der Frau gerade ins Auto. Großer schwarzer Range Rover. Einer von diesen Angebertraktoren, wie sie die Reichen fahren.«
»Oh.«
»Ich hatte denselben Weg, jedenfalls für eine Weile. Sie haben die Largo Road aus der Stadt raus genommen. Aber ich weiß natürlich nicht, wohin sie gefahren sind.« Er hob bedauernd die Schultern.
Ethan setzte sich zu uns. Er hatte sich auch einen Whisky eingeschenkt. Hob das Glas und sah uns an. »Auf das, was wir lieben«, sagte er, und wir tranken mit.
»Wo soll ich jetzt nach ihm suchen?«, fragte ich.
»Ich kenne jemanden, der im Golfclubhaus arbeitet«, sagte Ethan. »Er kann sich umhören.«
»Das würden Sie tun?«, fragte ich. Dankbar.
»Natürlich. Ich bin schließlich sein Sohn.« Er deutete auf John und lächelte. Traurig. »Als meine Mutter weglief, war ich einundzwanzig. Ich hatte Semesterferien und half natürlich bei der Suche nach ihr. Wir wissen alle noch ziemlich genau, wie das ist, auch wenn es schon lange her ist. Und wir wissen auch noch, wie man seine Netzwerke nutzt, wenn man an Informationen gelangen will.«
Ich fahre gleich mit dem Neun-Uhr-Zug hin. Ethan hat vorhin angerufen und gesagt, es wäre gut, wenn ich
Weitere Kostenlose Bücher