Das zerbrochene Siegel - Roman
begingen sie die Vesper.
So spät schon?, überlegte sie, während sie die Tür leise wieder schloss, ohne hineinzugehen.
Plötzlich fuhr ihr ein eisiger Schreck in die Glieder. Heilige Jungfrau, Mutter Gottes! Die Vesper!
War Schwester Lukas auch im Chorraum gewesen? Hatte sie Beatrix allein gelassen? Wer wachte jetzt bei der Kranken?
Eilig machte Garsende kehrt. Ich hätte mich nicht so lange entfernen dürfen. Ich hätte gleich wieder zurückkehren müssen. Herrje, dieser dumme Streit!
Garsende begann zu laufen. Atemlos erreichte sie das Gästehaus und keuchte die Treppe hinauf. Schmerzende Stiche
jagten in ihre Seite, als sie den Gang entlangrannte und die Tür zu Beatrix’ Zelle aufriss.
Eine beißende Kälte schlug ihr entgegen. Jemand hatte den Verschlag des Fensters weit geöffnet. Von allen Decken entblößt, lag Beatrix auf ihrer Bettstatt. Wasser tropfte aus ihrem Haar auf das durchnässte Stroh, Tropfen glänzten wie Perlen auf ihrem nackten Körper.
KAPITEL 15
D er Burggraf bemerkte nur am Rande, dass Schwester Synesia erschrocken vor ihm zurückwich, als er rot vor Zorn durch die Pforte stürmte.
Was erlaubte sich die Heilerin? Wie konnte sie es wagen zu behaupten, er ließe sich ans Gängelband nehmen? Was glaubte sie, wen sie vor sich hatte? Einen jungen Burschen, und noch so grün hinter den Ohren, dass ein Weib es vermöchte, ihn an der Nase herumzuführen? Allmächtiger! Er war ein Mann im Ehestand, kein junger Springinsfeld, der sein Mütchen zu kühlen suchte! Und selbst wenn er sich je mit solchen Wünschen trüge, was hätte die Heilerin sich da dreinzumengen?
Der Zorn beschleunigte seine Schritte. Gewiss, Serafina von Asti war eine liebreizende junge Frau, aber um ihn zu gängeln, also dazu bedurfte es doch allemal mehr!
»Lachhaft«, brummte er laut. Ebenso lächerlich wie der Verdacht, den Garsende hegte. Wie war sie nur auf den absurden Gedanken verfallen, eine junge Edelfrau könnte in die Machenschaften um das verschwundene Pergament verstrickt sein? Bestünde auch nur die Möglichkeit, dann wäre ihm das ganz gewiss nicht entgangen!
Was war er nur für ein Narr gewesen, der Heilerin zu gestatten, sich mit seinen Angelegenheiten zu befassen? Sah man doch, was dabei herauskam!
Mit grimmigem Gesicht stapfte er durch die Pfauenpforte und beschloss, Matthäa den Umgang mit der Kräuterfrau zu verbieten.
Als er die Wollgasse passierte, ereiferte er sich über Garsendes Unverfrorenheit, mit ihm zu rechten. Übellaunig schimpfte er sie ein närrisches Weib, dass sie ihr bisschen Verstand an einen Höfling verloren hatte, während er den Kratzwinkel überquerte, und erst als er die Hachgengasse erreichte, begann sein Zorn zu verrauchen. In die Münzergasse einbiegend, ertappte er sich dann bei der Frage, ob Serafinas Anteilnahme an seinem Tun nicht doch um eine winzige Spur über das Maß hinausgegangen war, und kam mit nachdenklich gerunzelter Stirn vor dem Tor zu seinem Heim an.
»Bei allen Heiligen! Was macht Ihr denn für ein bärbeißiges Gesicht?«, rief Matthäa, die ihm in der Diele entgegentrat.
»Gebt Eurer Heilerin die Schuld«, grunzte er.
»Garsende? Was hat sie Euch gesagt?«
Eben noch rechtzeitig fiel ihm ein, dass die Anwürfe der Heilerin kaum für die Ohren seiner Gemahlin geeignet waren, also brummte er nur etwas von einer strengen Hand, deren Garsende dringend bedürfe, und ließ es dabei bewenden.
»Ach so.« Matthäas Stimme klang so erleichtert, dass Bandolf sie erstaunt ansah.
Bevor er den Gedanken jedoch vertiefen konnte, lenkte sie ihn ab: »Kommt mit in die Halle. Prosperius ist zurückgekehrt.«
Auch wenn Bandolf sich vorgenommen hatte, seinen jungen Schreiber wegen seiner Versäumnisse kräftig ins Gebet zu nehmen, konnte er sich eines Gefühls der Erleichterung nicht erwehren, als er ihn nun wohlbehalten über einer großen Schüssel sitzen sah. Heißhungrig schaufelte Prosperius den Inhalt in sich hinein, während er mit vollem Mund mit seinen Erlebnissen prahlte.
»… war tiefste Nacht, und plötzlich hörten wir die Wölfe heulen«, nuschelte er.
»Schlimmer wäre gewesen, hättest du dir in der Kälte den Rotz geholt und gar noch mit ins Haus gebracht«, unkte Werno und schüttelte wie in trüber Vorahnung den Kopf.
Hildrun machte kugelrunde Augen, doch Matthäas Tante bemerkte spitz, ihr selbst wäre schon weitaus Übleres auf des Königs Straßen begegnet.
»Hat Kuhn nicht erzählt, ihr hättet auf dem Weg stets Unterkunft in
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