Das zerbrochene Siegel - Roman
Dolch an die Kehle gesetzt hatte.
Mit einem grimmigen Lächeln beschleunigte er seinen Schritt.
Als das Tor des Klosters hinter ihr zufiel, atmete Garsende erleichtert auf.
Während der letzten Tage hatte sie die Krankenstube kaum verlassen, und die Mauern, in denen sie nur wenig willkommen war, hatten sie bedrückt. Beatrix’ Beichte, die Anspannung, auf der Hut sein, in jedem Gesicht nach jenem einen Ausschau halten zu müssen, das nur Fassade war und hinter dem sich ein gewissenloser Meuchler verbarg, und nicht zuletzt der Mangel an Schlaf hatten in Garsende zunehmend ein Gefühl der Unwirklichkeit erzeugt.
Jetzt glaubte sie zu wissen, wer für Beatrix’ Tod verantwortlich war, und sogar, wo der abgängige Domherr zu finden sein würde. Ihr Verdacht, zunächst noch vage, hatte sich in den letzten Stunden verhärtet, und Schwester Synesia hatte ihr den Hinweis auf Bruder Bartholomäus’ Aufenthalt geliefert.
Gewiss, sie konnte sich irren, und trotz allem, was sie erfahren hatte, wollte sich noch immer kein vollständiges Bild ergeben. Ihr Kopf schien angefüllt mit vielen Teilchen, die wild durcheinanderwirbelten und sich nicht richtig aneinanderreihen lassen wollten.
Aber allein die Tatsache, dass es Hinweise gab, denen man folgen konnte, sorgte dafür, dass sich die Welt für sie wieder ins rechte Licht rückte.
Als Garsende den Wald betrat, der sich an die Felder des Klosters anschloss, war ihr, als würde sie endlich wieder festen Boden unter sich spüren.
Der aufziehende Tag schien trübe zu werden, und nur wenig Licht drang durch die Wipfel der Bäume, um ihr den Weg zu erhellen. Garsende hatte sich nicht die Zeit genommen, eine Lampe mitzunehmen, und so kam sie langsamer voran, als sie es sich gewünscht hätte. Zunächst hatte sie vorgehabt, selbst dem Hinweis der Pförtnerin zu folgen, doch dann hatte sie sich anders entschieden. Zweifellos würde Schwester Synesia berichten, was Garsende sie gefragt hatte, und schließlich auch jenes Ohr erreichen, das die richtigen Schlüsse daraus ziehen würde. Doch das mochte einige Zeit dauern. Der kleine Vorsprung sollte genügen, um dem Burggrafen zu berichten, was sie erfahren hatte. Jedenfalls hoffte sie das.
Langsam wurde es auch im Wald heller, und Garsende beschleunigte ihren Schritt. Auf halber Höhe zur Pfauenpforte kamen ihr aus Richtung Worms einige Bauern und Hörige entgegen, die auf dem Weg zu ihren Feldern waren. Jemand rief ihr einen Gruß zu, den sie mit einem flüchtigen Winken beantwortete, während sie weitereilte.
Aber was geschieht, wenn sie es schon weiß?, fuhr es Garsende plötzlich durch den Kopf. Womöglich war ihr der Gedanke an die vergessene Klause schon in den Sinn gekommen, als man im Refektorium aus der Vita Bischof Burchards vorgelesen hatte. Aber würde sie auch wissen, wo sie suchen musste?
Garsende hastete voran. Vor der Abzweigung, die zu ihrer Hütte führte, zu dem Teil des Waldes, der ihr Eigen war, zögerte sie einen Moment. Doch dann eilte sie weiter der Stadt zu.
Ein Reiter kam ihr entgegen. Zunächst erkannte sie ihn nicht, doch als er sie fast erreicht hatte, schien er eine unachtsame
Bewegung gemacht zu haben. Sein Pferd stieg, und während er fest in die Zügel griff, rutschte die Kapuze von seinem Kopf.
Garsende blieb stehen und stemmte keuchend ihre Hände in die Hüften. »Ihr?«, rief sie atemlos. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Dem Himmel sei Dank!« Die Sorge, die sie bedrückte, schien plötzlich um einiges leichter zu sein.
Lothar hatte seinen Gaul beruhigt und glitt aus dem Sattel.
»Was hast du es denn so eilig? Du bist ja ganz außer Atem.«
»Ich muss rasch in die Stadt. Könntet Ihr mich nicht mitnehmen? Auf Eurem Gaul würde es schneller gehen, und ich muss dringend mit dem Burggrafen sprechen.«
»Was ist passiert?«
»Zu viel, um Euch alles im Einzelnen zu erklären. Aber ich weiß jetzt, wo Bruder Bartholomäus zu finden ist, und der Burggraf muss so rasch wie nur möglich davon erfahren«, stieß sie hervor, erleichtert, nicht mehr allein mit der Bürde zu sein.
»Du weißt, wo Bruder Bartholomäus zu finden ist?«, wiederholte er langsam.
»Ja doch«, sagte sie ungeduldig.
»Wo?«
»Es ist natürlich nicht sicher, doch ich vermute, dass er sich in einer alten Klause aufhält, die sich auf meinem Eigen befindet«, sprudelte Garsende heraus. »Die Klause mit der Quelle daneben war ein Geschenk der Grafen von Rieneck an Bischof Burchard. Als der Bischof starb,
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