Das zerbrochene Siegel - Roman
bäuchlings vor die Wand.
»Bei allen Heiligen! Was macht Ihr denn da?«, hörte sie Schwester Walburgas Stimme hinter sich. Erschrocken fuhr Garsende hoch und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie hatte die Tür offen gelassen und nicht gehört, dass jemand eingetreten war. Missbilligend starrte die Nonne auf sie herab.
»Das scheint mir nicht das rechte Benehmen, das man in Gegenwart einer Kranken …«, begann sie, ihre Missbilligung
in Worte zu fassen. Offenbar hatte sie noch keinen Blick auf die Bettstatt geworfen. Ihre Züge waren bleich, und für einen Augenblick fragte sich die Heilerin, ob die Blässe in ihrem Gesicht vom Kopfschmerz herrührte oder ob sie womöglich eine andere Ursache hatte.
Hastig stand Garsende auf und drängte die verdutzte Schwester auf den Gang hinaus. Während sie die Tür leise hinter sich schloss, bemerkte sie Schwester Synesia, die an die Tür der Nachbarzelle klopfte.
»Was hat das zu bedeuten?«, fuhr Schwester Walburga sie an. »Die Ehrwürdige Mutter hat ausdrücklich …«
»Beatrix ist von uns gegangen«, sagte Garsende.
Das brachte die Nonne zum Schweigen. Einen Moment lang schaute sie Garsende ungläubig an, dann senkte sie den Kopf und bekreuzigte sich. Über ihre Schulter hinweg sah Garsende Schwester Synesia erneut an die Tür der Nachbarzelle klopfen.
»Ich werde Mutter Margarete benachrichtigen«, erklärte Schwester Walburga, als sie den Kopf wieder hob.
Garsende nickte und schickte sich an, in Beatrix’ Zelle zurückzukehren. Dann sah sie jedoch, wie die Pförtnerin sich zu Schwester Walburga umdrehte, als die Infirmarin an ihr vorbeiging.
»Serafina von Asti ist nicht da«, sagte sie ratlos.
Schwester Walburga blieb stehen. Auch Garsende verharrte und spähte zu den beiden Nonnen hinüber.
»Was wolltet Ihr denn von ihr?«, erkundigte sich die Infirmarin.
»Es ist ein Bote für sie an der Pforte.«
»Vielleicht ist sie noch in der Kirche?«, meinte Schwester Walburga, doch die Pförtnerin schüttelte den Kopf.
»Ich habe sie nicht bei der Messe gesehen.«
Die Infirmarin runzelte die Stirn. »Wenn ich es recht bedenke, habe ich sie auch nicht mehr gesehen, seit sie das
Refektorium gestern beim Nachtmahl so rasch verlassen hat.«
Schwester Walburgas Anfall kann nicht lange gedauert haben, wenn sie am Nachtmahl teilgenommen hat, fuhr es Garsende durch den Kopf, während die Infirmarin fragte, ob Serafina das Kloster denn verlassen hätte.
»Nicht, solange ich Dienst an der Pforte tat«, antwortete die Pförtnerin. »Zwar kam sie nach dem Nachtmahl am Torhäuschen vorbei. Sie sagte, sie wolle sich vor dem Schlafengehen noch ein wenig die Beine vertreten. Wir sprachen über die Vita Bischof Burchards, aus der Schwester Pankratia bei Tisch vorgelesen hatte. Wie er Worms zu neuer Blüte verhalf und trotz seines hohen Ansehens am Hof des Kaisers die Klausur vorzog. Aber sie hielt sich nicht lange auf, und als sie ging, sah ich sie in Richtung Gästehaus davonschlendern. Daher nahm ich an …«
»Ihr werdet sie schon finden«, unterbrach sie Schwester Walburga mit sichtlicher Ungeduld. »Ich muss die Ehrwürdige Mutter von Beatrix’ Ableben unterrichten.«
Schwester Synesia schlug ein Kreuz. »Sie ist von uns gegangen?«, wiederholte sie, doch die Infirmarin hatte sich bereits abgewandt und strebte der Treppe am Ende des Gangs zu. Die Pförtnerin warf einen Blick auf Garsende, die noch immer vor der Tür zu Beatrix’ Zelle stand. »Wann ist sie gestorben?«, erkundigte sie sich.
»Während der Prim«, antwortete Garsende.
Betrübt schüttelte Schwester Synesia den Kopf und wandte sich ebenfalls zum Gehen.
»Was sage ich denn nun dem Boten?«, hörte Garsende sie murmeln.
»Hätte Serafina von Asti denn eine andere Möglichkeit gehabt, das Kloster zu verlassen, als an Euch vorbei durch die Pforte?«, fragte sie.
»Nein. Das Büßerpförtchen ist stets verschlossen, wie
auch das alte Pförtchen im Garten. Außerdem ist es derart mit Brombeerranken überwuchert, dass nicht einmal eine Maus zum Käsestehlen durchkäme, und …«
Garsende hörte nicht mehr zu. »Eine Maus«, wiederholte sie langsam. Ihr Herz klopfte plötzlich bis zum Hals.
Sie stand ganz still, während ihre Gedanken durcheinanderwirbelten und ihr Bilder zeigten, die sich viel zu rasch wieder auflösten.
»… finde ich sie vielleicht im Kreuzgang, oder … Himmel, was ist denn mit dir?«, hörte sie die besorgte Stimme der Nonne.
Garsende antwortete nicht.
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