Das zerbrochene Siegel - Roman
wird er Euch vielleicht fragen, ob Ihr alles getan habt, damit der Mörder seines Vaters gefasst werden konnte.«
Annalinde schien noch um eine Spur blasser zu werden, als sie ohnehin schon war. Für einen Moment nagte sie auf ihrer Unterlippe, dann sagte sie tonlos: »Ich habe dem Burggrafen alles gesagt, was es zu sagen gab.«
»Wirklich?« Sofort erkannte Garsende, wie ungeschickt die Frage gewesen war. Sie spürte förmlich, wie Annalinde sich versteifte.
»Versteht doch, ich will Euch keinesfalls schaden. Oder Euch quälen«, sagte sie so rasch wie eindringlich. »Aber es könnte Euch und auch Euren Sohn in Gefahr bringen, wenn Ihr etwas verschweigt. Und der Burggraf ist sicher, dass Ihr ihm mehr über Euren Gatten hättet berichten können, als Ihr es tatet.«
Auf den Wangen der Witwe erschienen hektische rote Flecken, und ihre Stimme überschlug sich vor Entrüstung, die an Hysterie grenzte. »Der Burggraf nennt mich eine Lügnerin?«, schrie sie. »Wie kann er es wagen?« Sie trat einen Schritt zurück und sank auf der Bank nieder, als hätten sich ihre Kräfte durch den heftigen Ausbruch plötzlich verzehrt.
»Aber nein, das dürft Ihr nicht denken.« Garsende unterdrückte ein tiefes Seufzen. Wie, in aller Welt, sollte sie Annalinde nur dazu bringen, ihr zu vertrauen? Irgendwie musste sie der Witwe einen Weg zeigen, wie sie ihr Versäumnis zugeben konnte.
»Als der Burggraf bei Euch war, so bald, nachdem Ihr vom Tod Eures Gatten erfahren hattet, befandet Ihr Euch in verständlicher Erregung. Da ist es nur natürlich, wenn Erinnerungen getrübt sind«, sagte sie schließlich.
Annalinde sah auf und starrte stumm an der Heilerin vorbei, während sie ihre Hände unablässig knetete. Ihr Mienenspiel verriet die unterschiedlichsten Gefühle: Misstrauen, Erschöpfung, und nicht zuletzt Furcht.
Unaufgefordert setzte sich Garsende neben die junge Witwe und legte eine Hand auf Annalindes verkrampfte Finger. »Wollt Ihr mir nicht sagen, was Euch bedrückt?«, fragte sie leise.
Mit einem Laut, der wie ein unterdrücktes Schluchzen klang, ließ Annalinde den Kopf sinken. »Wären wir doch nur niemals nach Worms gekommen«, flüsterte sie.
Nach einem Frühstück, das Eltrudis mit müßigem Geschwatze untermalt hatte, verließ Bandolf mit seinem jungen Schreiber das Haus. Eine Weile schritt der Burggraf kräftig aus, begleitet von Prosperius’ Keuchen, der mit seinen kurzen Beinen Mühe hatte, ihm zu folgen. Seine Gedanken kreisten um Matthäa, die auch heute Morgen mit bleichen Wangen und müden Augen an der Tafel gesessen und kaum ein Wort gesprochen hatte.
»Ihr seht blass aus. Fühlt Ihr Euch noch immer nicht wohl?«, hatte er sie gefragt, als Matthäa ihm in der Diele den Umhang um die Schultern legte. »Die Heilerin sollte Euch ansehen.«
»Ihr wollt Euch ritterlich für mich in die Bresche werfen und gegen meine Tante antreten?«, erkundigte sie sich erheitert. »Ihr wisst doch, dass sie Garsende nicht leiden mag.«
»Es kümmert mich einen Haufen Hühnermist, was Eltrudis denkt«, brummte Bandolf. »Wenn Ihr krank werdet, hilft das keinem. Ich habe die Heilerin mit einem kleinen
Auftrag betraut, und sie kommt heute nach der Sext ins Haus, um mir Bericht zu erstatten. Bei der Gelegenheit solltet Ihr Garsende von Euren Beschwerden erzählen.«
Für einen Moment schien es ihm, als wolle Matthäa zustimmen, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Das wird nicht gehen. Eltrudis hat heute Nachmittag eine Unterredung mit Äbtissin Margarete, und sie möchte, dass ich sie begleite.«
»Filiberta kann sie ebenso gut begleiten. Mir wäre wohler, wenn die Heilerin ein Auge auf Euch werfen würde.«
»Aber es geht mir doch gut«, beteuerte Matthäa. »Macht Euch nur keine Gedanken. Das Einzige, das mir fehlt, ist Schlaf.« Schalk blitzte in ihren Augen auf. »Nach der gestrigen Nacht müsst Ihr doch selbst am besten wissen, warum dem so ist.« Und nach einem zärtlichen Kuss auf seine bärtige Wange hatte sie ihn energisch aus der Tür geschoben.
Trotzdem war es ihr nicht gelungen, seine Besorgnis gänzlich zu zerstreuen.
Der Burggraf verzog das Gesicht. Matthäa würde es ihm übelnehmen, wenn er gegen ihren Willen ein Wörtchen mit der Heilerin wechselte. Und seine Gattin war nicht die Frau, die damit hinter dem Berg hielt. Falls er sie kränkte, würde sie ihm tagelang die kalte Schulter zeigen, und danach verspürte der Burggraf nicht das geringste Verlangen.
›Weibsleute!‹, dachte er verdrossen
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