Das zerbrochene Siegel - Roman
winzigen Schluck. Dann fiel ihr Kopf erschöpft zurück. Behutsam ließ Bandolf sie auf das Lager zurückgleiten, als sie unversehens ihre fieberglänzenden Augen aufriss. Ihre Züge verzerrten sich in panischer Angst. Ein tiefer, gurgelnder Laut entrang sich ihrer Kehle, und sie versuchte schwach, nach ihm zu schlagen. Ebenso plötzlich sank sie matt auf ihr Lager zurück und blieb wie leblos liegen. Nur am kaum merklichen Heben und Senken ihrer Brust konnte er erkennen, dass Beatrix noch atmete.
Mit einem erschrockenen »Heilige Mutter Gottes!« sprang Bandolf auf. Hastig trat er von ihrem Lager weg und bekreuzigte sich.
»Habt Ihr nun erfahren, was Ihr wolltet?« Die beißende Stimme in seinem Rücken ließ ihn herumfahren.
Einen Lidschlag lang hatte er den absurden Eindruck, als stünde der Erzengel Michael vor ihm, bereit, ihn aus dem Paradies zu vertreiben. Dann erkannte er in der kräftigen Gestalt die Äbtissin, die ihn eisig anstarrte.
Wie hat sie nur so rasch davon erfahren?, fuhr es Bandolf durch den Kopf. »Dass es ihr so schlecht geht, hatte ich nicht erwartet«, brummte er und spürte, wie heißes Blut in seine Wangen schoss.
»Nun hattet Ihr Gelegenheit, Euch selbst davon zu überzeugen«, erklärte die Ehrwürdige Mutter kühl, während sie ihm mit einer Geste bedeutete, die Zelle zu verlassen.
Sie verlor kein weiteres Wort über seine Unbotmäßigkeit, und auch der Burggraf schwieg, als er ihr folgte. Erst nachdem sie das Hospiz verlassen hatten, blieb sie stehen und warf ihm einen tadelnden Blick zu.
»Ihr hättet Euch nicht über meine Anordnung hinwegsetzen sollen, Burggraf.«
»Womöglich nicht«, gab er widerstrebend zu. »Doch ich hoffte, Beatrix von Teveno könne Licht auf eine Angelegenheit werfen, die einen Menschen das Leben gekostet hat.«
»Das ist sicher ein dringlicher Grund, doch ich fürchte, Ihr müsst anderswo nach Erleuchtung suchen.«
»Glaubt Ihr, sie kommt noch einmal zu sich?«
»Das weiß nur Gott allein«, antwortete die Ehrwürdige Mutter mit einem leisen Seufzen.
Bandolf strich sich nachdenklich über seinen Bart. »Ich hätte erwartet, dass eine Schwester bei einer so Schwerkranken Wache halten würde.«
»Wollt Ihr uns der Nachlässigkeit bezichtigen?«
Hastig beteuerte der Burggraf, dass ihm dergleichen völlig fernläge.
Im ersten Moment schien ihr eine verärgerte Antwort auf den Lippen zu liegen, doch dann straffte sie sich und sah ihn an.
»Die traurige Wahrheit ist, dass wir nicht genügend Schwestern sind, um all unseren Aufgaben vollauf gerecht zu werden«, erklärte sie ruhig. »Wir dürfen uns nicht beklagen. Im Gegensatz zu manch anderem Kloster ist Mariamünster
mit Ländereien gesegnet, die unser Auskommen sichern. Doch fehlt es uns an erfahrenen Händen. Die Cholera vor drei Jahren hat einige der Besten unter uns dahingerafft, und obwohl wir regen Zulauf haben, braucht es Zeit, um aus unseren Novizinnen gute Schwestern zu machen.«
Bandolf nickte. Er konnte sich noch gut an die verheerenden Folgen erinnern, als die Cholera in Worms gewütet und so viele das Leben gekostet hatte.
»Ihr dürft nicht glauben, dass wir saumselig sind, doch unsere erste Pflicht gilt dem Dienst an Unserem Herrn und der Regula des heiligen Benedikt, unseres verehrten Ordensvaters, der wir uns alle unterworfen haben.
Ihr habt doch selbst gesehen, wie viele der Lager im Hospiz derzeit benutzt werden«, fuhr sie fort. »Der Winter war streng, und wir dürfen uns nicht verweigern, wenn ein Kranker an unsere Tür klopft.«
Die Äbtissin seufzte. »Meine Schwestern geben ihr Bestes.«
Dessen bin ich mir gewiss, dachte Bandolf mit einem Blick in ihr strenges Gesicht.
»Was nun Beatrix von Teveno betrifft … Ist ihr Ehemann noch einmal hier vorstellig geworden?«, fragte er laut.
»Nein, Burggraf, er kam nur ein einziges Mal, um sein Weib zu sehen.«
»Und sonst hat sich niemand nach ihr erkundigt? Ulbert von Flonheim vielleicht? Seine Gattin? Oder Bruder Bartholomäus vom Domstift?«
»Der Einzige, der sich noch nach ihr erkundigt hat, war ein Mann mit Namen Lothar von Kalborn.«
Bandolf sog scharf den Atem ein. »Tatsächlich? Und was wollte er von ihr?«
»Er ersuchte darum, die Kranke sehen zu dürfen. Offenbar befindet sich seine Nichte auf dem Weg nach Worms.
Doch sie war noch nicht eingetroffen, als Lothar von Kalborn in die Stadt kam. Er hörte von der namenlosen Kranken in unserem Hospiz und befürchtete, es könne sich womöglich um seine Nichte
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