Das zerbrochene Siegel - Roman
kann nicht glauben, dass Ihr Euch um den jungen Mönch Gedanken machen müsst.« Im Schein der Fackel sah Bandolf ihn lächeln. »Heute betete er die Psalmen mit uns und war dabei so schläfrig, dass Bruder Wipert in zweimal anstupsen musste, damit er nicht einnickte. Als ich die Kirche verließ, sah ich ihn gähnend den anderen ins Kapitelhaus folgen.«
»Ich dachte, Bruder Kilian sei in der Bischofspfalz einquartiert?«
»Das ist er auch. Doch unser Kämmerer hofiert ihn, wo er kann. Da Pothinus noch immer das Amt des Propstes begehrt und Kilian in der Gunst des Königs steht, glaubt er womöglich, der Mönch würde sich für ihn beim König verwenden, wenn er ihn mit Privilegien überhäuft. Wie beispielsweise, ihn an unseren Versammlungen im Kapitelsaal teilhaben zu lassen.«
Bandolf brummte, nicht gänzlich überzeugt.
»Was wisst Ihr über den burgundischen Edelmann, der in der Bischofspfalz logiert?«, fragte er unvermittelt.
»Meint Ihr Raoul de Saint Rémy?«
Der Burggraf nickte. Im Schein der Lampe sah er den Bruder Scholasticus lächelnd den Kopf schütteln.
»Hat auch der Burgunder Euren Verdacht erregt?«, wollte er wissen.
»Verdacht wäre wohl zu viel behauptet. Sagen wir, der Mann erscheint mir ein wenig zwielichtig.«
»Zumindest Raouls Herkunft könnte man so bezeichnen«, meinte Bruder Goswin.
»Das bedeutet?«
»Es bedeutet, dass er sich brüstet, von König Rudolph III. von Burgund abzustammen, und um nichts weniger als in direkter Linie.«
»Großer Gott!« Hörbar schnappte Bandolf nach Luft. »Stimmt es denn?«
»Nur in gewisser Weise. Ihr müsst wissen, König Rudolph hatte eine Geliebte. Sie gebar einen Sohn, den er zum Bischof von Lausanne machte, so viel steht fest. Es heißt, er zeugte mit seiner Kebse auch eine Tochter, Gisela genannt. Jenes Mädchen verheiratete König Rudolph mit einem Mann geringeren Standes, den er dafür zum Grafen von Saint Rémy machte. Unser Raoul de Saint Rémy ist der Sohn dieser Verbindung.«zu
»Und was will er hier in Worms?«, entfuhr es Bandolf.
»Das, mein lieber Burggraf, entzieht sich meiner Kenntnis.«
Eine Weile grübelte Bandolf darüber nach, wie ein solcher Mann zu seinen gegenwärtigen Sorgen passen könnte. Doch als er zu keinem erhellenden Ergebnis kam, wandten sich seine Gedanken wieder dem verschwundenen Bruder Bartholomäus zu.
Schweigend überquerten die beiden Männer den Marktplatz, der wie verwaist in der Dunkelheit lag und nur am Schandpfahl Leben zeigte. Eine Hure, die mit kahl geschorenem Kopf zwischen den Brettern eingezwängt ihre Unzucht sühnte, rief den beiden nächtlichen Passanten ein unmissverständliches Angebot zu, wollten sie sie aus ihrer misslichen Lage befreien. Und als Bruder Goswin ihr dringend empfahl zu bereuen, schickte sie ihrem Angebot einen deftigen Fluch hinterher.
»Warum seid Ihr so sehr davon überzeugt, dass das besagte Schriftstück etwas mit Ulberts Tod zu schaffen hat?«, unterbrach Bruder Goswin ihr Schweigen, als sie in die Hohlgasse einbogen.
Einen Augenblick überlegte Bandolf, um seine Gedanken zu sammeln. »Beatrix von Teveno, das Weib, das Ulbert am Wegesrand aufgelesen und ins Hospiz der Nonnen gebracht
hatte, führte das Schriftstück mit sich«, zählte er schließlich seine Strohhalme auf. »Ulbert nahm der Bewusstlosen das Dokument ab. Einige Tage später traf Beatrix’ Gatte, Arnold von Clemante, im Kloster ein, und das Erste, was er verlangte, war die Habe seiner Gattin. Er schien unzufrieden zu sein, als er nur mehr das irische Kreuz seiner Gemahlin in ihrem Beutel fand.«
Goswin gab einen überraschten Laut von sich. »Ein irisches Kreuz, sagt Ihr?«
Sie hatten den Durchgang der Bischofspfalz erreicht, der zum Domplatz führte. Der Burggraf blieb stehen und sah den Domherrn fragend an.
Goswin schüttelte den Kopf. »Womöglich hat es ja nichts zu bedeuten. Und so selten ist ein irisches Kreuz nun auch nicht.«
»Nun sprecht schon.«
»Gestern beim Nachtmahl saß ich im Refektorium neben dem Tisch des Kämmerers. Einige Pilger waren zu Gast, die in der Bergkirche St. Peter haltgemacht hatten, bevor sie nach Worms weiterwanderten«, erklärte Bruder Goswin endlich. »Einer von ihnen erzählte von einem Fremden, den man am Morgen im Wald vor Hochheim tot aufgefunden hat.« Und leise fügte er hinzu: »Er trug ein irisches Kreuz bei sich.«
KAPITEL 10
D ie Glocken von Worms, die zum Morgengebet rie fen, begleiteten den Burggrafen, als er die Stadt durch das
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