Das zerbrochene Siegel - Roman
Andreastor verließ. Blassgraue Streifen durchzogen den Himmel, und ihre rötlich schimmernden Ränder verhießen einen sonnigen Frühlingstag.
Am Aasgraben vorbei folgte Bandolf einem Pfad, der durch Roggen- und Weizenfelder nach Westen führte, bevor er in einen dichten Tannenwald mündete. Der Pfad stieg an. Die Wipfel der Bäume schlossen sich über ihm, und es war dunkel, als sei die Nacht zurückgekehrt. Doch allmählich ging die Sonne auf. Ihr goldenes Licht sprenkelte die Baumkronen und schimmerte wie ein Versprechen durch das dunkle Nadelgeflecht der Tannen.
Nach einer halben Wegstunde, in der Bandolf keiner Menschenseele begegnete, öffnete sich der Wald den Wiesen und Äckern, die die Dörfler von Hochheim dem Tannenforst abgerungen hatten. Auf einer Anhöhe über ihren Gehöften lag die Bergkirche St. Peter im Morgenlicht.
Im Gegensatz zur Stille des Waldes war Hochheim bereits zum Leben erwacht. Auf seinem Weg zur Kirche hinauf kamen ihm Bauern und Knechte mit Ochse und Pflug entgegen. Ställe wurden ausgemistet, Kühe gemolken, Mägde schöpften Wasser aus dem Dorfbrunnen, und aus jeder Ecke drang ein Gackern, Grunzen und Muhen. Obwohl Bandolf schon lange nicht mehr hier oben gewesen war, erkannten ihn die Leute. Wie die Städter stets bereit zu einem Schwatz, blieben sie stehen, grüßten und fragten, was es
Neues in der Stadt gäbe, ob er wegen des Toten oben in der Kirche gekommen sei und ob er wüsste, um wen es sich bei dem Fremden handle.
Bandolf erkundigte sich, wer den Toten gefunden hätte.
»Das war Hunfried, was unser Knecht ist«, vermeldete eine Bäuerin. »War ein übler Schreck für ihn, wie er den Mann da plötzlich liegen sieht. Tot und kalt wie ein Fisch lag der da in einer Pfütze voller Blut.« Trübe schüttelte sie den Kopf. »Ist seither zu nichts mehr zu gebrauchen, unser Hunfried.«
»Als wär das was Neues«, brummte der Bauer neben ihr verdrossen. Die Umstehenden lachten.
»Der Knecht soll zur Kirche kommen und draußen auf mich warten«, beschied der Burggraf, ehe er den Leuten zunickte und seinen Weg fortsetzte.
St. Peter stand auf einem Vorsprung der Anhöhe und blickte über das Tal der Pfrimm und die weite Rheinebene nach Osten zur Bergkette des Odenwalds hinüber. Als Bandolf den ummauerten Kirchhof erreichte, blieb er einen Moment lang vor der Pforte stehen und betrachtete versonnen das schlichte Gotteshaus. Ehemals war St. Peter ein kleines Kloster gewesen, von dem es hieß, Bischof Burchard habe es als sein Refugium erbauen lassen, um sich von der Last seines Amtes zu erholen. Ein wehrhafter Turm überragte das Kirchenschiff um ein Geschoss, ebenso das Gebäude südlich der Kirche, in dem die Mönche gelebt hatten. Stille lag über dem Ort. Eine sanfte Brise brachte die Frühlingssüße der Wälder und Wiesen mit, und während Bandolf die Pforte zum Kirchhof öffnete, fragte er sich, warum der Bischof wohl die Abgeschiedenheit hier oben zugunsten der lärmenden Stadt aufgegeben hatte. Dorthin, ins eigens dafür errichtete Stift St. Andreas, hatte der Bischof das Bergkloster verlegen lassen.
Keine Menschenseele war zu sehen. Schon wollte Bandolf
kehrtmachen, um zum Eingang im Turm zu gehen, als er am anderen Ende des Kirchhofs den blonden Schopf eines Mädchens hinter der Mauer auftauchen sah. Sie bemerkte ihn nicht, schien jedoch mit jemandem zu sprechen, der sich jenseits der Mauer befinden musste. Bandolf beugte sich über die Brüstung und entdeckte ein altes Weib, das, zu Füßen des Mädchens an die Mauer gelehnt, auf dem Boden kauerte.
Das Mädchen hielt einen Kanten Brot und ein Stück Käse in der Hand. Es hob den Kopf und grüßte, als es den Burggrafen sah.
»Ist außer euch niemand hier?«, fragte er.
Beim Klang seiner Stimme drehte die Alte ihren Kopf und wandte ihm ihr zerklüftetes Gesicht zu. Die getrübten Augen sahen ihn träumerisch an.
»Bruder Elbert von St. Andreas hält in der Krypta Wache bei dem Fremden«, gab das Mädchen Auskunft, während sie der alten Frau Brot und Käse reichte. Unwirsch schob die Alte ihre Hand weg, beschirmte mit zittrigen Fingern ihre Augen und starrte gen Osten, wo die Türme des Doms von Worms hinter den Baumwipfeln hervorragten.
»Was macht sie denn da?«, erkundigte sich Bandolf.
»Seit sich ihr Geist verwirrt hat, sitzt meine Urgroßmutter hier Tag für Tag und wartet darauf, dass ihr Ehemann wieder heimkommt. Er gehörte zum Tross von Bischof Burchard, als der mit dem Kaiser in die Lausitz zog.«
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