Das zweite Gesicht
gesenkt, die Knie angewinkelt. Das farblo s e Kleid hatte sie straff über ihre Schienbeine bis zu den sch m alen Fesseln gespannt. Neben ihr lag etwas, das aussah wie ein z u sam m e ngekrüm m te r Körper. Ein Seesack.
Chiaras Schritte klackten auf d e m Asphalt, als sie die Straßenseite wechselte. Die Gestalt hob den Kopf. Chiara hatte sie schon vorher erkannt, am Mantel und d e m blonden Haar, obwohl ihre erste Begegnung schon einige Zeit zurücklag. Ihr Haar war s t rähnig und klebte wie Stroh am Kopf.
»Hatten S i e nicht einen Koffe r? « Chiara deutete auf den Seesack. Sie zwang sich zu einem Lächeln.
»Oh, Gott sei Dank … Endlich sind Sie da!«
»’n Abend, Nette.«
Die junge F rau aus dem Scheunenviertel sprang auf und schwankte leicht wie eine M a rionette an viel zu langen Fäden; vielleicht waren ihre Beine ein g eschlafe n . Wahrscheinlich hatte sie s c hon eine ganze Weile hier gesessen. » S ie m üssen mir helfen! Bitte!«
Chiara widerstand dem I m puls, einen Schri t t zurückzuweichen, als Nette i h ren A r m ergriff. »Sicher, ja«, sagte sie widerwillig. Sie hatte allein sein und über alles nachdenken wollen. Nettes plötzliches Auftauchen passte ihr ni cht. Und es m achte sie m i sstrauisc h .
So wie der Mann in der Bahn. Und wie die Frau. Herrgott, wie die verdammte Katze vorhin auf der Straße. Vielleicht steigerte s i e sich wirklich in etwas hinein.
Nettes E rscheinen war wie eine kalte Hand aus d e r Vergangen h eit, d i e sich ihr un v er h offt auf die Schult e r legte.
»Bitt e !«, sa g t e Nette n oc h ein m al. Der f l ehende Unterton fügte sich nicht in das B ild, das Chiara von ihr in Erinnerung hatte. Nette war selbstbewusst und patzig gewesen, viel stärker als sie, je m and, der m it allem fertig wird.
Jetzt war sie nur noch ein W rack.
»Sind Sie den ganzen Weg vom Scheunenviertel hierher zu Fuß gekommen ? «
Nette n i ckte. »Gelaufen. Das erste Stück gerannt.« Sie schluckte w i e bei einem Heu l krampf, aber sie vergoss keine Tränen. Vielleicht war e n sie ihr längst ausgegangen.
»Hat je m and Sie verfolgt ? «
»Car m elitas Bande. Sie e rinnern sich doch, ode r ?«
Die Kinderhändlerin und ihre Spießgesellen. Natürlich. Chiara zog ihren Schlüsselbund aus der Tasche. »Gehen
wir erst m al rein, einverstanden ? «
Chiara schloss das Tor auf und sperrte es hinter sich und Nette wie d er zu. Ein letzter nervö s er Blick zur ü ck auf die Straße – kein Mensch weit und breit.
Nette schleppte den Seesack eilig den W eg entlang, ein zerlu m pter Eindrin g ling vor dem m akellosen W eiß der Birken und Statuen. C hiara m usste schnell gehen, um Schritt zu halten. Vor ihnen tauchte das Haus auf. Neben dem Eingang brannte eine einzelne La m pe.
» W as ist m i t Ihrem Koffer passiert?«, fragte sie um die Stille zu durchbrechen, während sie nach dem richtigen Schlüssel suchte. »Sie hatten doch so ein großes, altes Ding.«
»Ja.« Nettes Stim m e klang jetzt ruhiger. »Aber den konnte ich nicht neh m en. Der war voller Blut.«
Zwanzig
In der Villa war es kalt, tro t z d es S o m m ers. Chiara hatte im K a m i n ein Feuer entzündet. Sie hatte drei Anläufe gebraucht, bis es endlich brannte.
»Das ist ein schönes Haus«, sagte Nette und schaute sich beeindruckt in dem m a r m orweißen Wohnz i mmer u m . Sie saß auf einem der Ledersofas.
»Finden Sie wirklich ? «
»Sie etwa nicht ? «
»Ich fürchte, ich hab noch gar keine rechte Meinung dazu. Ich w ohne erst seit ein paar Tagen hier.«
Nette stieß ein vergnügtes Glucksen aus. » W arum haben Sie eine Badewanne im W ohnz i m m er ? « Der Wein, den Chiara ihr eingeschenkt hatte, schien sie zu beruhigen.
Chiara zwang sich zu einem Lächeln. »Ich hab nicht die geringste Ahnung.«
»Sie wissen’s nicht?«
»Und ich hab m eine Zweifel, ob m eine Schwester es gewusst hat.«
Auf Nettes Zügen zeichnete sich B egreifen ab. »Dann hat ihr dieses Haus gehö r t? Der Sc ha uspieleri n ?«
»Ja.«
»Sie sind jetzt selbst eine, oder ? «
»Eine Schauspielerin? Ja, ich schätze, schon.«
»Ich hab Ihr Bild gesehen, an ei n er Litfass s äule. W ar so’n Fil m p l akat, so’n großes. Ich hab erst gedacht, es wär Ihre Schwester, ab e r d ann hab ich den Na m en gelesen. Chiara Mondschein.«
Chiara ließ sich in ei n en Sessel f allen, d e r dem So f a gegenüber stand. »Sie müssen m i r erzählen, was passiert ist. W arum werden Sie verfolgt ?
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