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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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ihres Marktwertes und die Möglichkeit, einige ihrer Sorgen in den Hintergrund zu drängen.
    Eine andere Schauspielerin war nach nur wenigen Drehtagen ausgefallen, Chiara war als Ersatz angefordert worden. Zum Glück würden nur wenige Szenen wiederholt werden m ü ssen. Für Chiara war das kein Problem – s o etwas war üblich und geschah laufend, ohne dass das Publikum etwas davon erfuhr. Natürlich würde es später heißen, Chiara sei d i e erste W ahl für die Rolle gewesen, der Regisseur habe sich nie je m anden anderes vorstellen können und er sei überglücklich gewesen, als seine W un s chkandidatin unverzüglich zugesagt habe. Das alte Spiel – schon nach drei Fil m en kannte sie es in- und auswendig.

Erst im Ateli e r er f uhr s i e, wer die Rolle urs pr ünglich gespielt hatte: Elohim hatte den F i lm in der vergangenen Woche begonnen, hatte aber am Montag abbrechen müssen, als sie in ein Wesp e nnest geraten war. W i e das Nest in die Kulisse g e kommen war, konnte nie m and erklären. E i n paar B ühnenarbeiter waren u m gehend entlassen worden, a u ch w e nn nie m and ihre Schuld beweisen konnte. Sie schworen, es sei am Freitagabend noch nicht dort gewesen, und dass ein Wochenende ausreichte, um ein Ne s t für ein ganzes W esp e nvolk zu bauen, war m ehr als zweifelhaft.
    Nach kurzer Behandlung in einer Klinik war Elohim nach Hause gebrac h t worden. Die m eisten Stic h e hatte sie im Gesicht, und es hieß, dass sie hohes Fieber habe, die Ärzte aber sicher s eien, dass sie sich wieder erholen werde.
    Chiara m achte sich Sorgen, konnte aber nicht u m hin, für die unverhoffte Rolle dankbar zu sein. Gewiss, Angebote hatte sie genug, doch dieses hier war weit verlockender als alle anderen: Eine Geschichte nach M otiven a u s Tausendundeiner Nacht, in der sie die Prinzessin Schehere z a d e spi e lt e ; die Zusa mm enarbeit m it einem angesehenen Regisseur; dazu ein technischer und finanzieller Aufwand, der in keinem Verhältnis zu ihren bisherigen F il m en stand.
    Ihr erster Impuls war, Elohi m s Unfall m it Masken und Medusa in Verbindung zu bringen. Allerdings gab es keinen konkreten Hinweis, und alle schworen, das Gelände sei am S a m st a g und Sonntag verschlossen und streng bewacht gewesen sei. Die Wespen, so hieß es, mussten auf natürlic h e W eise dorthin g e l a ngt sein. Ver m utlich, darauf ei ni gten s i ch s chlie ß lich a lle, h ätten die Arbeiter es eben doch übersehen, und es sei nur richtig, dass m an sie für ihre Nachlässigkeit gefeuert hatte.
    Chiara hatte keine Bewei s e, nur ihre Ahnungen, und als Masken am Abend des ersten Drehtages versuchte, sie zu erreichen, verweigerte sie d i e Annah m e des Gesprächs. Sie wusste nicht, wie sie s i ch ihm gegenüber verhalten sollte. Sollte sie ihn offen m it ihrem W i ssen konfrontieren oder ihn wie beiläufig über Medusa aushorchen? So tu n , als ob sie sich nur für seine Arbeit m i t historischen Stoffen int e res s ier e ? Freilich w ar d i e Gefahr dabei, dass er sie tatsächlich hatte verfolgen lassen und von ihrem Besuch auf dem Rummelplatz wusste. All e rdings g l au b t e sie d a s im m er weniger; ihre Ängste erschienen ihr albern, ihre Reaktion ü berzogen. Schlie ß lich entschied sie, sei n en nächsten A n ruf anzuneh m en, eventuell sogar ein Treffen m it ihm zu verein b aren.
    Was Nette anging, so erl e bte sie eine angeneh m e Überraschung. Die junge Frau hatte am nächsten Morgen nach einem Bad und i n neuer Kleidung wie ein ander e r Mensch ausgesehen, war fröhlich und ausgelassen und gab sich alle Mühe, den Anforderungen an ein Haus m ädchen zu entsprechen. Sie putzte und wusch, sie räu m te Kisten aus und Schränke ein, versuchte sich sogar an ein paar Kochrezepten, die sie in der Küche fand; die Ergebnisse waren keineswegs überwältigend, gaben aber Anlass zu Hoffnung. Dabei schien ihr die A r beit Spaß zu m achen, und sie gab sich Mühe, alles zu Chiaras Zufriedenheit zu erledigen. S i e war keine geler n te Hauswirtschafterin, ihre Sprache ließ zu wünschen übrig, und m anch m al erwischte Chiara sie dabei, wie sie vor einem der Kunstwerke stand und es mit der staunenden Neugier eines Kindes betrachtete. Nette war nicht kultiviert und würde es nie m it einem Butler oder einer der h ochbezahlten Gesellsc h afterinnen aufneh m en können, aber sie war ein liebes Mädchen. Falls das, was sie durchge m a cht hatte, irgendwelc h e Spuren hi nterlassen h atte, so ließ sie n i cht  zu, dass et w

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