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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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    »Sie haben Car m elita und die anderen doch erlebt.« Chiara erin n erte s i ch n i cht gerne d aran, aber s i e nickte.
    »Dann können Sie sich den Rest denken«, fuhr Nette for t .
    »Irgendwann ist denen eingefallen, dass ich für sie anschaffen gehen könnte. Nicht m ehr auf eigene Rechnung arbeiten, so n dern für Car m elita.« I h re Miene verhärtete sich. »Aber nicht m it m i r. Ich hab Ihnen doch erzä h lt, was Car m elita getan hat, a l s ich noch ein Kind war.«
    Chiara nickte. »Sie hat Sie zum Khan geschickt.« Etwas erwachte in ihrem Verstand wie a u s einem W i ntersc h l af und streckte bleiche Hände aus d e m Abgrund des Vergessens e m por.
    Der Khan. Die Kinder, die Car m elita ihm z u ge f ührt hatte. Seine S a m m lung m enschlicher Organe.
    Innerlich s c hütt e lte sie s i ch. Sie wollte m it all d e m nichts zu tun hab e n. Plöt z lich er f üllt Nett e s Anwesenheit sie m it Wut. W as dachte sie sich dabei, einfach hier aufzutauchen und sie von Neu e m m it diesen Dingen zu konfrontieren? Hatte sie nicht genügend eigene Sorgen?
    »Ich hab m i ch nicht länger im Viertel v erst e cken können.«
    Nettes Blick tastete noch immer über die weißen Oberflächen der E i nrichtung. »Früher oder später hätten sie m i ch gefunden. Ich war verzweifelt … und ich hab gedacht, na ja …«
    »Sie dachten, weil Sie m i r d a m als geholfen haben, bin jet z t ich an der Reihe.«
    Nettes Augen suchten scheu die ihren, und Chiara wurde klar, wie verängstigt das M äd c h en w ar. N e t t e h ä t t e i h r Leid tun m üssen, aber alles, was sie in diesem Augenblick spürte, war Ablehnung. Und Zorn über dieses ungebetene Eindringen in ihre W elt, dieses Aufwe c ken schlum m ernder Erinnerungen.
    Nette m usste das Zuc k en in Chiaras Miene b e m erkt haben. Ihre linke Hand krallte sich in den Seesack. »Hören Sie, wenn es Ihnen zu viel i s t, dann gehe ich wieder. Ich kann aus Berlin fortgehen, irgendwo finde ich schon was, irgendwen, der dafür bezahlt …«
    »Schon gut. Tut m i r Leid. Ich bin nur … ich hatte einen zie m lich üblen Tag.« Chiara rieb sich m it den Handballen die Augen; als sie wieder zu Nette hinübersah, war das Mädchen für einen Mo m ent v e rschwomm e n wie ein Phanto m .
    Nette l a chte nicht, a l s sie s a gte: »Den hatte ich auch, das können Sie m i r glauben.«
    »Sicher. W i rklich, es tut m i r Leid.« Chiara überlegte, ob das die W ahrheit war. »Sie haben eben was von Blut erzä h lt …«
    »An d e m Koffer, ja. Sie haben m ein Zimmer gefunden. Unter dem Dach, wissen Sie no c h? Plötzlich standen zwei von den Kerlen neben m ein e m Bett. Sie haben m i r gedroht, und dann ist einer auf die Idee gekommen … Sie wissen schon. W är ja schade dru m , hat er gesagt. Da hab ich ihm durch die Decke eins m i t der Pistole verbraten. Hab sie m al einem Kunden geklaut, vor drei, vier Jahren. Noch nie benutzt, das D i ng, wenigstens nicht von m i r. Ich wusste gar nicht, ob es über h aupt funktioniert oder ob’s m i r nicht unter der Decke die Beine wegschießt. Aber der Kerl ist ein f ach u m gefa l l en. Er hat geblutet, als hätte ihn einer von oben nach unten aufgeschlitzt. Hab ihn a m Hals  getroffen, daran lag’s w ohl. Der andere ist abgehauen, hat noch gerufen, dass sie m i ch kalt m achen. Da hab ich m eine Sachen gepackt und bin abgehauen. Der Kerl ist genau in den offenen Koffer gefallen, m anches ist zie m lich versaut, aber … na ja, ich kann’s ja waschen.«
    Nette schob eine Hand in den Seesack und suchte etwas. Als sie sie wieder hervorzog, hatte sie die vergilbte Fotografie zwischen den Fingern, die Chiara da m als bei ihr gesehen hatte: Nette als kleines Mädchen m it ihrer Mutt e r.
    Nette le g t e das Bild vor sich auf den Tisch, sehr vorsichtig, wie eine wertvolle Reliquie. Chiara sah drei rotbrau n e Flecken auf d er Oberfläche, einen n eben dem Gesicht d e r Mutt e r, die ihre T o c h ter vor vielen Jahren an die Kinder v er m ittle r i n v erkau f t hatt e .
    »Das war’s nicht, was ich gesucht habe«, sagte Nette rasch und griff erneut in den Sack. Jetzt zog sie eine Brieftasche hervor, die aussah, als hätte s i e m al ei n e m Mann gehört. Sie öffnete sie und zog ein paar Scheine heraus.
    »Ich wollte fragen, ob ich für ein paar Tage hier bleiben kann. Ich fall Ihnen nicht zur Last, ganz bestimmt nicht. Und ich kann dafür bezahlen.«
    »Stecken Sie das weg.«
    » W irklich, ich …«
    »Nun tun Sie’s schon weg.« Chiara

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