Das zweite Gesicht
Schnaps m atratzen.« Das letzte W ort betonte sie m it einem Zynis m us, der sie um Jahre älter m achte. »Car m elitas Bande hat hier n euerdings d a s Sagen, und das gefällt vielen nicht. Aber wir m achen weiter wie bisher, v i ele m it ihr, ein paar gegen sie. Und wenn Car m elitas Schläger u ns nicht e rwischen, d ann tut’s irgendwann die Syphilis.«
Chiara versuchte im m e r noch zu Atem zu kom m en.
»Haben Sie m i ch deshalb hierher gebracht … um m i r das zu sagen ? «
»Sie wären jet z t viellei c ht tot. Die mögen keine Spitz e l von der Polente.«
»Ich bin keine Polizistin.«
»Natürlich nicht. Hab ich sofort gesehen.« Plötzlich grinste sie. »Das m it dem Blut in Car m elit a s Gesicht, war’n Sie das ? «
»Sieht so aus.«
»Sie hat’s verdient. Und noch viel m ehr.«
Die Kamm e r, in der sie sich befanden, war Teil eines Dachbodens, in dem es durchdringend nach abgehangener Mettwurst roch. Eine dünne Bretterwand trennte sie vom Rest des S p eichers. In einer Ecke lagen eine Matratze und paar Decken, darüber hing eine gerah m te Fotografie: eine Frau m it einem kleinen Kind im Arm.
»Hier wohne ich«, kam die Antwort auf eine Frage, die Chiara noch nicht ausgespro c hen hatte. »Arbeiten tu ich anderswo. Genau wie die anderen, im Freien, in Absteigen und Kaschemmen. Manch m al auch in W ohnungen. Sie haben’s doch gerade gesehen, oder? So m achen’s hier fa s t alle Fa m ili e n. Ver m iet e n ihre Zim m er an Mädchen wie m i ch, um sich wenigstens ein m al am Tag ’ne war m e Mahlzeit leisten zu können.«
Chiara schaute sich um und entdeckte einen offenen Koffer, in dem ein K l eid lag, sauber zusa mm engelegt. Einen Schrank gab es nicht. Da fiel ihr etwas ein. »Das m it Ihrem Mantel t u t m i r Leid. Ich beza h le Ihnen den Schaden.«
Die junge F rau raffte ihren Mantelsaum zus a m m en und betrachtete den Riss. »Nur ein paar Stiche, m ehr ist das nicht. Und was m einen Schaden angeht, den können Sie nicht bezahlen. W enn m i ch einer von denen erkannt h a t
…« Sie m u sste den Satz nicht beenden, Chiara wusste genau, was sie m einte. Aber e r fasste sie wirklich die ganze Tragweite? Wohl kau m . Die Kerle mochten das Mädchen u m bringen, wenn es ihnen über den W eg lief. Und vielleicht fiel ihnen weit Schlim m eres ein.
»Ich heiße Nette.« Sie ließ den Mantelsaum fa l l en und griff neben der Matratze nach einem Wasserkrug. Sie setzte ihn an die Lippen und t r ank gierig. W asser lief an ihrem Kinn herab und tropfte auf ihre Kleidung.
»Chiara Mondschein.« Viell e icht war es Dum m heit, ihren wahren N a m en zu nennen, aber sie dachte, dass Ehrlichkeit das Mindeste war, was Nette verdient hatte.
»Mondschein ? « Das Mädchen setzte den Krug a b. » W ie die Schauspielerin ? «
»Ja.« Sie sagte nicht, dass J u la ihre Schwe s ter war, fürchtete aber, Nette habe die Ähnlichkeit ohnehin längst be m erkt.
Doch das Mädchen zuckte nur die A chseln. »Hab keinen ihrer Fil m e gesehen. Brauch m ein Geld für andere Sachen. Sind Sie Jüdin ? «
»Mein Vater ist Jude.«
»H a b ic h m i r geda c h t … M onds c hein , Si e wiss e n s chon.«
» W ie alt s i n d Si e ? «
»Kom m t jetzt was Mor a lisc h e s ?«
»Ich bin nur neugierig.«
Nette grinste. Sie war h übsch, wenn sie lachte, auf ei n e Art, die viel feiner wir k te, als die U m gebung erwarten ließ. »Neugierig, h m ? Na gut, ich bin neunzehn. Alt genug, das ist m al sicher. Zu alt, wenn es nach m anchen von denen geht, die m i ch bezahlen.«
» W arum haben Sie m i r geholfen ? «
Das Mädchen zögerte und schien m ehrere Antworten abzuwägen. »Car m elita ist ei n e Schla m pe. Sie hätte Ihnen wehgetan. Vor ein paar Tagen haben sie einem Mädchen in der Mulackstra ß e das Gesic h t zerschnitten. H aben’s fast abgeschält, sagen die Leute, sah aus wie ein gehäutetes Kaninchen. Keiner hat so was verdient.«
»Aber wenn Sie rausfindet, dass Sie m i r geholfen haben …«
»Kann’s m i r genauso gehen, ja sicher. Mein Risiko.« Sie reichte Chiara den W asserkrug. »Ist zie m lich frisch, keine Sorge.«
Chiara trank, erst ein wenig widerwillig, dann im m er gieriger.
» W er ist di e se Car m elit a ?«
»Früher war sie ’ne Hure und das L i ebchen von einem der Bosse im Viertel. A ber das ist lange her. Irgendwie ist sie dann selbst z u r Chefin g e worden, weiß der T eufel, wie. Die Leute erzählen allerhand, wissen Sie. Dass sie ihm den Schwanz abgeschnitten
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