Das zweite Gesicht
viel Zeit. In ein paar Stunden bring ich Sie zur Oranienburger Straße, das ist weit genug weg.«
»Si e könne n j a m i tko m men« , sagt e C hiar a hilflo s un d ohne z u über l e gen . » Ic h m ei n e … i c h hab e I h n e n e i n e Me ng e z u ve r d a nk e n . S i e hab e n mi r w a h r s c heinl i c h g e r a d e d a s L e b e n gerette t … Ic h wohn e i n eine m Hot e l . D a i s t ge nu g Pl a t z fü r zwei . Si e könne n hie r weg , wen n Si e wollen.«
Nette sah sie traurig an, dann zeigte sie den Schatten eines Lächelns. »Und für wie lange? E i n paar Tage, bis Sie wieder fort s i n d ?« S i e schüttelte den Kopf. »Ich m uss für i m m er hier raus od e r gar nicht, darauf läuft’s hinaus. Mal eben s o , für eine Woche oder f ür zwei oder drei, d as bringt nix. Ich gehöre hierher.« Es klang nicht überzeugt, nur resigniert.
Chiara wollte sie d rän g en, wollte a uf ihrem Vorschl a g bestehen, aber das Mädchen trat vor und legte ihr einen Finger an die Lippen. Die Berührung war war m , fast zärtlich. Plötzlich war da eine Verbundenheit zwischen ihnen, die nichts m it dem zu tun hatte, w as in der Spelunke und auf der Straße passiert war.
»Ist schon gut«, flüsterte Nette. » R eden wir nicht m ehr drüber, ja ? «
Ihre Blicke hingen fest aneinander, wie Hände m i t verschränkten Fingern, ehe Nette sich u m drehte und sich im Schneidersitz auf d er Matratze nied e rließ. Aus den Schatten zog sie eine Schachtel m it Nähzeug und breitete den Mantelsaum z w ischen ihren Knien aus.
»Setzen Sie sich«, sagte sie, während sie einen Zwirn einfädelte, »wir haben Z eit.«
Sechs
Jula trug weiße Leichengew ä nder, besch m utzt mit dunklen Flecken. I h re Fin g ers p itzen waren blutig, die Nägel zerbrochen. Das lange dunkle Haar war verfilzt und stand in bizarrer Form von i hrem Kopf ab, wie Schlangen vom Haupt der Medusa.
W i e passend, dachte Chiara. Und, wer weiß, vielleicht ein Hinweis auf Maskens bizarren H u mor.
»Lady Madeline«, sagte Masken und nickte hinauf zur Leinwand. »Ihr großer Auftritt im Finale.«
Chiara b e t r acht e te ge b annt die Bilder, d i e in klarem Schwarzweiß vor ihr abliefen. Sie kannte das Drehbuch, hatte m ittl erw eile auch Poes Origi n al v i er m al g elesen. Sie wusste, dass dies die Stelle war, an der die wahnsinnige Madeline a u s ihrem Grab zur ü ckkehrte, in das ihr Bruder Roderick und der Erzähler – im Film Poe persönlich – sie gelegt hatten. Sie hatten g e glaubt, Madeline sei ihrer langen Krankheit erlegen, doch in W ahrheit war sie schei n tot, u nd es h a tte Tage gedauert, ehe sie sich m i t bloßen Fingern durch den Sargdeckel geschabt hatte. Die Männer h a tten sie in d e r Fa m ilieng r u f t des Hauses Ush e r zur letzten Ruhe gebette t , und von dort hatte sie sich zurück in die Ge m ächer i h res Bruders geschleppt, die breiten Treppenfluchten hinauf, über Galerien und durch verwinkelte, unbeleuchtete Korridore. Gleich würde die Szene kom m en, in der sie sich a u f Roderick stürzte, um ihn m it sich in den Tod zu reißen. P oe floh aus dem Haus, ohne den Ausgang des K a m pfes abzuwarten, nur um aus der Ferne m it ansehen zu m üssen, wie das uralte Herrenhaus der Ushers in sich zusammenstürzte und in einem düsteren See versank.
Während der Vorstellung in Maskens Haus ver m isste Chiara die Klavier m usik, die gewöhnliche Fil m vorfüh r ungen begleitete. In den großen Lichts p i elt h eatern spielten sogar ganze Orc h ester. In Meißen hatte es das nicht gegeben, und in Berlin war sie noch nicht dazu gekom m en, ein e s der rie s igen Kinos am Zoo oder Kurfürstenda m m zu besuchen.
Ohne Musik wirkten die m eisten Szenen unfertig, ihnen fehlte das Dra m atische, und das Pathos der Akteure hatte etwas Absurdes, Unbeholfenes; sie wirkten wie Kinder, die sich als Erwachsene ausgaben. Mit Julas Erschei n en hatte sich das verändert. I h r Auftritt als w ahnsinnige Madeline h a tte ei n e sol c he Inten s it ä t, dass Chia r a in ihrem Sessel in sich zusam m ensank. W i e Jula m it aufgerissenen Augen auf den verzweifelten R oderick Usher starrt e ; i h r subtiles Spiel m it Körperbewegungen; die Nuancen ihres Wahns – das alles war weit m ehr, als m an von Chiara erwarten konnte.
»Sie spielt sich sel b st « , sagte Masken, der vielleic h t ahnte, was in ihr vorging. »Sie ist großartig, aber im Grunde ist sie einfach nur Jula Mondschein, wenn sie W u t
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