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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kai Meyer
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Rollos vor den Glasscheiben hatte m an geschlossen, Tageslicht war in Anbetracht der Scheinwerfer eher störend als nützlich. Bühnenarbeiter wuselten umher, Hilfsbeleuc h ter und allerlei Leute m it Aufgaben, die Chiara nicht a u f Anhieb erkannte. Einige blickten au f , als sie m it ihrem Leichengesicht und dem wehenden weißen Totenhe m d hereinka m , m a nche wohl erstaunt über ihre Ähnlichkeit m it Jula.
    Masken diskutierte gerade heftig m i t dem K a m e ra m ann, einem dicklichen Me n schen m it zurückgekämmtem Haar und hochgekre m pelten H e m dsär m eln. Es schien Unstim m i gkeiten hin s i c htlich der Beleuchtung in dieser und den bereits abgedrehten Szenen zu geben, offenbar keine allzu großen, denn als M a sken sie s ah, brach er das Gespräch mit einem A c hselzucken ab und eilte zu ihr und Götzke herüber.
    Bevor er sie erreichte, trat ein weiterer Mann in Chiaras Blickfeld, schnitt Masken m it gespielter Beiläu f igkeit den Weg ab, reichte ihr die H and und verbeugte sich.
    »Torben Grapow«, sagte er. » G estatten Sie m i r, dass ich m i r erlaube, Sie m it Ihrer Schwester zu vergleichen und zu der Feststellung kom m e, dass Sie dabei höchst vorteilhaft abschneiden.«
    Falls er versuchte, die S p rechweise des neunzehnten Jahrhunderts nachzuah m en, so wirkte es für ihren Gesch m ack zu aufgesetzt, ein wenig so wie sein ganzes Erscheinungsbild. Je m and hatte ihn einen »zweiten Conrad Veidt« genannt, und der Vergleich war in der Presse hängen geblieben, obwohl es sich genau genommen um einen Affront handelte: Grapows Popularität reichte weiter zurück als die von Veidt, schließlich war Der Adlatus d es Paracelsus bereits 1913 uraufgeführt worden. Zutreffend war die Ähnlichkeit der beiden, was ihre Ausstrahlung betraf. Veidt wurde eine dä m onische Aura  nachgesagt, eine Düsternis, in der er in seinen Rollen, angeblich aber auch im w i rklichen Leben schwelgte. Grapow eiferte ihm darin nach, obgleich er selbst unter der dunklen Sch m inke rund um die Augen attraktiver wirkte als der auf Bösewichte abonnierte Veidt. Sein Haar war schwarz, wo m öglich nachgefärbt, die W angen eine Spur zu hohl, w as er durch Make- u p gern betonte. Er hatte einen athletischen Körperbau, nicht übel, dachte sie, obwohl es sie nicht überraschte – nicht u m sonst verehrten ihn vor allem die Frauen i m Publiku m . Und seine Augen, auffallend h ell b lau in m itten d er sc hw arzen U m r andungen, wirkten auf der Leinwand fast w e iß, was seinen Blick u m so stechender m achte.
    Sie lächelte ihm zu, begrüßte ihn zur Vorsicht sehr vi e l fö r m licher als Götzke und ließ eine W örterflut im Stil schlechter P oe-I m itationen über sich ergehen. Sie spürte, dass er sich unwiderstehlich vorkam. Sie fand ihn nicht unangenehm, eher a m ü s ant, aber sie war doch froh, als Masken ihn schließlich unterbrach, um ihnen die anstehen d e Szene zu er k l ären.
    Chiaras Aufgabe war einfach: Sie spielte die Tote im Sarg, au f gebahrt in d er Fa m iliengr uf t der Ushe r s, die von Roderick und dem jungen Poe betrauert wird. Die beiden hatten den Sarg in das unterirdische Gewölbe getragen und öffneten nun den Deckel, um einen letzten Blick auf die scheinb a r Verstorbe n e zu wer f en. Chiaras einzige Herausforderung bestand darin, nicht m it den Lidern zu zucken, was sich als mühsa m er heraus s t ellte, als sie ver m utet hatte. T rotzdem machte sie i h re Sache ga n z ordentlich, und nach der zweiten W i ederholung gratulierten ihr Masken und Götzke, und Grapow sprach ihr m it typischem Schwulst seine »allergrößte Verehrung« aus.
    Während der U m bauarbeiten trat einer von Maskens  Assistenten an sie heran und s t ellte ihr Alfred Kubin vor, der zur W i ederaufnahme der Dreharbeiten aus Österreich anger e ist w ar. Er wollte selb s t ü berwachen, wie seine Kulissen in Szene gesetzt wurden. Kubin war Mitte vierzig und m achte einen gebildeten, aufgeschlossenen Eindruck. E r hatte schütteres Haar, eine große Nase und war nicht besonders ansehn l ich, doch die Art, wie er sprach, wie er schaute und die U m gebung in sich aufnah m , verriet, dass hinter seiner hohen Stirn ein scharfer Verstand arbeitete. Er erzählte Chiara gerade von seiner ersten Begegnung m it Poes W erk, als ein Gong ertönte: Der U m bau war beendet, die Aufnah m e n konnten weiter g ehe n .
    Im Lauf d e s Tages begann Chiara, an ihren eigenen E m pfindungen zu zweifeln. Sie hatte erwartet, dass alles sehr

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