Das zweite Königreich
letzte Woche ein paar Meilen südlich von hier zur Jagd, nicht wahr?« fragte der Prinz.
»Erfolglos, wie man hört«, bemerkte Roland trocken.
Cædmon nickte.
»Mag sein, aber der Wald hat es dem König offenbar trotzdem angetan«, erklärte Richard. »Das ganze Gebiet südlich von Romsey, von der Küste bis nach Ringwood. Das meiste ist ohnehin unbesiedelte Wildnis.«
»Das meiste, aber nicht alles«, sagte Cædmon. Er kannte die Gegend, weil Robert, der Bruder des Königs, Ländereien in Dorset besaß. Cædmon hatte gelegentlich Nachrichten zwischen William und Robert überbracht und auf dem Weg dieses riesige Waldgebiet durchquert. »Ein rundes Dutzend Dörfer liegt im westlichen Teil. Vielleicht auch zwei Dutzend.«
Richard schlug die Augen nieder und nickte unglücklich. »Des Königs Förster nennt sie ›eine Handvoll armseliger Weiler‹.«
»Und was soll damit geschehen?« fragte Aliesa stirnrunzelnd.
»Sie werden niedergebrannt, die Menschen müssen fort«, sagte Richard.
Cædmon erhob sich abrupt, wandte ihnen den Rücken zu und entfernte sich ein paar Schritte. Nimmt es denn nie ein Ende? fragte er sich bestürzt. Wann hast du genug, William, wann wirst du endlich aufhören, unschuldige Menschen ins Elend zu treiben? In beinah jeder Stadt in England ließ der König seine Burgen errichten, und bei der Auswahl der Standorte spielten lediglich strategische Erwägungen eine Rolle, nie die Frage, ob auf dem ausgewählten Gelände zufällig Häuser standen, in denen Menschen wohnten. Soldaten traten ihre Türen ein, trieben die Leute aus ihren Häusern und machten die meist erbärmlichen Holzhütten dem Erdboden gleich. Und wer nicht gleich verschwand oder gar protestierte, bekam noch ein paar Beulen und gebrochene Knochen mit auf den Weg …
Cædmon atmete tief durch, um die Fassung wiederzufinden. Schließlich wandte er sich wieder zu den anderen um. »Aber wo sollen sie hingehen? Was soll aus ihnen werden? Die meisten sind Köhler, oder sie bewirtschaften die winzigen Felder, die sie dem Wald abgerungen haben. Und jetzt kommt der Herbst, und das Land steht ohnehin vor einem Hungerwinter …« Er brach ab, als seine Stimme zu kippen drohte.
»Gott, William, warum kannst du nicht auf das bißchen Land dieser armen Kreaturen verzichten, wo dir doch ganz England gehört«, murmelte Aliesa.
Richard nickte unglücklich. »Er sagt, wenn er sie ließe, wo sie sind, würden sie früher oder später anfangen, in seinem Wald zu wildern. Lieber vertreibe er sie jetzt, als sie später alle kastrieren und blenden zu lassen.«
»Ah, er tut ihnen also im Grunde einen Gefallen«, höhnte Cædmon bitter. »Ich habe doch immer geahnt, daß er in Wahrheit ein Menschenfreund ist.«
»Ja, ich finde auch, der König tut ihnen einen Gefallen«, sagte Beatrice.
Alle starrten sie ungläubig an, dann begann Roland zu lachen. »Oh, was bist du nur für ein Schaf, Schwester.« Er wurde wieder ernst und wandte sich an Cædmon. »Und du solltest ein bißchen vorsichtiger sein mit dem, was du sagst. Und vor wem.«
Es war keine Drohung, nur eine Warnung, und er warf einen vielsagenden, kurzen Blick auf Beatrice. Roland Baynard war immer der Kluge und Bedächtige unter ihnen allen gewesen, die mahnende Stimme der Vernunft.
Cædmon nickte. »Du hast völlig recht. Ich werde irgendwohin gehen, wo mich niemand hört.« Er verneigte sich knapp vor den Damen und eilte mit langen Schritten davon. Die anderen sahen ihm nach, Roland und Richard besorgt, Aliesa voller Mitgefühl und Beatrice pikiert.
Helmsby, September 1070
Cædmon hatte sich den Luxus geleistet, einen Boten vorauszuschicken, damit seine Mutter und sein Vetter Alfred vorgewarnt waren, die Gästekammern herrichten und Onkel Athelstan irgendwo verstecken konnten. Es war ja nicht nötig, daß es gleich zu Anfang zu größeren Peinlichkeiten kam, auch wenn er sich keine Illusionen über den Erfolg dieses Besuches machte.
Beinah vier Tage war er mit Beatrice und ihrer Tante Yvetta – einer alten Jungfer von mindestens dreißig – unterwegs gewesen, denn die Damen waren lange Reisen nicht gewöhnt und ermüdeten schnell. Die Unterhaltung während der vielen eintönigen Stunden im Sattel verlief erwartungsgemäß stockend. Cædmon und Beatrice hatten bislang noch kein Thema finden können, das sie beide interessierte. Also plauderteBeatrice meist mit ihrer Tante über Menschen, die er nicht kannte, und Orte, an denen er nie gewesen war, oder sie beschwerten sich über
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