Das zweite Königreich
die Strapazen des Reisens in diesem unwegsamen, barbarischen Land. Cædmon fragte sich verdrießlich, wo die Straßen der Normandie sein sollten, die angeblich soviel besser waren. Alle, die er kennengelernt hatte, waren ebenso staubig und holprig wie diese. Nach zwei Tagen war er es so satt, daß er nur mit eiserner Disziplin dem Drang widerstand, davonzureiten und sie ihrem Schicksal zu überlassen.
Am frühen Nachmittag des vierten Tages, schon in Sichtweite der ersten Häuser von Helmsby, begann es endlich zu regnen. Seit dem Morgen war es heiß und drückend, und gegen Mittag waren die ersten, schwarzen Wolken aufgezogen, aus denen es jetzt gewaltig schüttete. Trotz der wochenlangen Trockenheit füllte sich augenblicklich jede noch so kleine Bodenwelle mit Wasser, und der Weg verwandelte sich in zähen Morast.
Cædmon konnte der Versuchung nicht widerstehen: Er ließ Widsiths Zügel für einen Augenblick los, breitete die Arme aus und sagte: »Mesdames – willkommen in East Anglia.«
Beatrice und Tante Yvetta starrten ihn sprachlos an. Schließlich hob Beatrice die Linke und strich sich die triefenden Locken aus der Stirn. »Können wir nicht in der Kirche dort drüben Schutz suchen?« fragte sie kläglich.
Cædmon schüttelte seufzend den Kopf. »Das Dach der Kirche ist so löchrig, daß es drinnen mindestens so schlimm regnet wie draußen.« Das entsprach zwar der Wahrheit, aber er hätte es vielleicht auch gesagt, wenn das Dach von St. Wulfstan mit frischen, dichten Strohschindeln gedeckt gewesen wäre. Er fand, diese kleine Rache für vier Tage ununterbrochenes Genörgel stand ihm zu. »Kopf hoch, Beatrice. Es ist nicht mehr weit. Höchstens eine halbe Meile.«
Ein kleiner Sturzbach rann vom Zipfel ihrer Kapuze auf den Rücken ihres dünnen Sommermantels hinab, und wieder hob sie die Hand, um die aufgelöste Lockenflut zurückzustreichen. »Aber was wird Eure Mutter von mir denken, wenn sie mich so sieht?« Sie sah mit bangen Kinderaugen zu ihm auf.
Cædmon bekam ein schlechtes Gewissen. Er wußte, daß ihr nur deshalb daran gelegen war, einen guten Eindruck auf seine Mutter zu machen, weil Marie Normannin war, doch das änderte ja nichts an der Tatsache, daß diese bevorstehende Begegnung sie ängstigte. Und seineMutter würde sich wahrscheinlich keine große Mühe geben, Beatrice ein herzliches Willkommen zu bereiten.
Er lächelte sie an. »Meine Mutter wird zweifellos denken, daß Ihr in einen Schauer geraten seid. Und jetzt kommt. Dort unter den Bäumen haben wir etwas Schutz. Aber bleibt auf dem Pfad und haltet Euch hinter mir.«
»Warum?« fragte Beatrice argwöhnisch. »Was ist mit diesem Wald?« »Ähm … gar nichts. Wir haben hier nur viele Tümpel. Und hier und da ein bißchen Treibsand.«
Yvetta begann, leise vor sich hinzumurmeln. Cædmon nahm an, sie betete. Doch als er genauer hinhörte, stellte er verblüfft fest, daß die reizlose, schmallippige, flachbrüstige Tante Yvetta fluchte wie ein Kesselflicker.
Wie so oft stand der Steward an der Zugbrücke, um den Burgherrn zu begrüßen, und grinste von Ohr zu Ohr. Alfred war ein kerniger Bursche – die paar Tropfen konnten ihm nichts anhaben. Als er auf Widsith zutrat, schwappte Wasser aus seinen knöchelhohen Schuhen.
»Willkommen daheim, Thane!« Er hielt Cædmon den Steigbügel, wie er es immer tat. Nicht daß es nötig gewesen wäre; Cædmon konnte ebensogut ohne Hilfe auf- und absitzen. Es war eine Geste der Höflichkeit und Ergebenheit, die Cædmon sehr zu schätzen wußte. Er glitt aus dem Sattel und schloß seinen Vetter in die Arme. »Danke, Alfred. Laß mich dir die Damen vorstellen.«
Höflich half Cædmon erst Beatrice und dann Yvetta vom Pferd, reichte jeder einen Arm, brachte sie zu Alfred und machte sie bekannt.
Alfred verneigte sich tief. »Enchanté, Mesdames. « Er erklärte Cædmon später, daß er Marie gebeten hatte, ihm wenigstens das beizubringen, und es tagelang geübt hatte.
Beatrice und Yvetta beschränkten sich auf ein knappes Nicken. Alfred wandte sich ab, zwinkerte Cædmon zu, um zu zeigen, daß er nicht gekränkt war – was vermutlich nicht stimmte –, und ging dann voraus zur Halle. Höflich hielt er ihnen die Tür auf, und sie traten ins dämmrige, feuchtschwüle Innere.
Cædmon sah sich verstohlen um und war erleichtert: Reine Leinenlaken bedeckten die langen Tische, frisches Stroh den Boden, und seine Housecarls wirkten überdurchschnittlich sauber und gepflegt. Vermutlich hat Mutter
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