Das zweite Königreich
Cædmon.
William schenkte einen Schluck Wein in einen Becher, trank und betrachtete ihn einen Moment versonnen. »Wer weiß. Jedenfalls sagt sie, Ihr seiet in der richtigen Gemütsverfassung, um unbequeme Wahrheiten auszusprechen, und solche Männer gäbe es hier in Rouen nicht genug.«
Cædmon zuckte mit den Schultern. »In einem Punkt hat die Königin sicher recht, Sire. Ich habe jahrelang mit so vielen Lügen gelebt, daß ich mich selbst oft unerträglich fand, und habe mir geschworen, mich nie wieder in Unwahrheiten zu verstricken. Oder in Illusionen und Selbstbetrug. Und wenn sie meint, daß ich heute unbedachter bin als früher, weil ich nicht mehr so viel zu verlieren habe, hat sie vermutlich ebenfalls recht. Aber wenn sie denkt, ich sei in so selbstmörderischer Stimmung, daß ich mich bedenkenlos um Kopf und Kragen rede, dann täuscht sie sich.«
Der König verdrehte ungeduldig die Augen. »Wenn man Euch hört, könnte man meinen, ich sei ein Tyrann«, knurrte er beleidigt.
Cædmon starrte ihn ungläubig an. War es möglich, daß William vergessen hatte, daß er ihm erst vor wenigen Tagen bei Toki Wigotsons Rückkehr gedroht hatte? Und all die vielen Male zuvor? Ja, vermutlich hat der König es tatsächlich vergessen, erkannte er. William, der ansonsten ein so bemerkenswert gutes Gedächtnis hatte – vor allem, wenn es darum ging, eine Kränkung nachzutragen –, schien sich oft wirklich nicht an die Dinge zu entsinnen, die er im Zorn gesagt hatte. Als lähme die kalte Wut einen Teil seines Verstandes. Eine unheimliche Vorstellung, fand Cædmon.
William betrachtete ihn herausfordernd, mit verschränkten Armen und einem stillen kleinen Lächeln, als wolle er sagen: Was für ein Feigling bist du nur.
Cædmon wandte den Blick ab und rieb sich unbehaglich das Kinn an der Schulter. Dann sagte er zögernd: »Nun, Sire, ich bin sicher, es ist klug, dem König von Frankreich das blanke Schwert unter die Nase zu halten. Seit seiner Kindheit hat er eine Todesangst vor Euch und …«
»Woher wollt Ihr das wissen?«
»Einer von Lanfrancs Spionen am Hof in Paris, ein Diener, ist der Sohn der Amme des Königs. Er ist praktisch mit Philip zusammen aufgewachsen und hat berichtet, wenn der kleine Prinz Philip nicht folgsam war, hat die Amme gedroht, William von der Normandie käme ihn holen.« Der König grinste amüsiert. »Lebt die Frau noch? Ich könnte ihr eine Jahresrente aussetzen …«
Auch Cædmon mußte lächeln. »Lanfranc hat die Geschichte meinem Bruder Guthric erzählt, Guthric mir. Und abgesehen davon, daß Ihr für Philip von Frankreich der schwarze Mann seid, fürchtet er Euch als überlegenen Strategen und weil Eure Macht größer ist als seine. Diese Angst sollten wir nutzen. Was unserer Sache hingegen ganz und gar nicht dienen würde, wäre, ihm Euren Sohn Robert in die Arme zu treiben.«
»Cædmon!« donnerte der König entrüstet. »Wie könnt Ihr es wagen?« »Es war das, was Ihr wolltet, Sire, meine Meinung. Ich muß gestehen, es ist länger gutgegangen, als ich gedacht hätte …«
»Aber wie könnt Ihr nur glauben, Robert würde sich je gegen mich stellen?«
»Oh, ich sage nicht, daß er es will. Aber er ist gekränkt über Eure ablehnende Haltung. Vor allem darüber, daß Ihr Rufus vorzieht.«
»Das ist lächerlich! Das tue ich keineswegs!«
»Nein, ich weiß, aber es sieht so aus.«
Cædmon stellte mit Erstaunen fest, daß William tatsächlich einen Moment darüber nachzudenken schien, was er gehört hatte. Was immer die Königin zu ihm gesagt hatte, hatte offenbar zu ein paar guten Vorsätzen geführt. Die, so schätzte Cædmon, unter günstigen Bedingungen etwa bis zum Abendessen halten würden.
»Ich kann Robert die Normandie nicht geben, Cædmon«, sagte William, bestimmt, aber nicht zornig. »Er ist nicht bereit dafür. Und mein Reich ist noch nicht gefestigt genug, um es aufzuteilen. Vielleicht später einmal. Wenn Gott mir noch ein paar Jahre zugesteht, um es zu befrieden und zu ordnen und zu stärken. Aber jetzt noch nicht.«
Cædmon nickte. »Das ist gewiß weise, Sire. Aber vielleicht solltet Ihr Euch die Mühe machen, Robert Eure Haltung zu erklären.«
William legte sein Schwert wieder an. Mit der so typischen Ungeduld nestelten seine großen Hände an der Schnalle des Gürtels. »Ich bin ihm keine Erklärungen schuldig. Er ist mein Sohn, und er hat mir zu gehorchen!«
Ohne eine Antwort abzuwarten, stürmte der König hinaus.
Laigle, Oktober 1077
»Gott, wie ich
Weitere Kostenlose Bücher