Das zweite Königreich
und zustimmendes Gemurmel waren die Antwort.
Cædmon wandte sich an Alfred. »Sei so gut, verhandele du die laufenden Sachen.«
»Vor zwei Monaten hat Wulfstan of Barton seinen Nachbarn Cyneheard Rotschopf beschuldigt, ihm eine Kuh gestohlen zu haben«, begann Alfred ohne Vorrede. »Weder damals noch zum nächsten Folcmot ist Cyneheard erschienen, um zu der Anschuldigung Stellung zu nehmen. Ist er heute hier?« Er sah fragend in die Richtung, wo die Männer aus dem kleinen Dorf Barton zusammenstanden. Ein schmächtiger, auffallend rothaariger Mann trat vor und schüttelte den Kopf. »Nein.«
Alfred seufzte. »Du bist sein Bruder. Cynewulf, richtig?« Der Steward kannte jeden freien Mann der Hundertschaft mit Namen, wußte, wer mit wem verwandt und verschwägert war, und hatte alle laufenden und vergangenen Rechtsstreitigkeiten im Kopf. Cædmon fand, sein Vetter hatte ein erstaunliches Gedächtnis.
Der Mann aus Barton nickte. »So ist es. Und ich und jeder aufrechte Mann aus Barton ist gewillt zu schwören, daß mein Bruder kein Dieb ist.«
»Du weißt genau, daß das nichts nützt, solange er hier nicht erscheint. Richte ihm aus, nächsten Monat ist seine letzte Gelegenheit. Kommt er zur dritten Vorladung wieder nicht zum Folcmot, wird er ein Gesetzloser. Sag ihm, er soll es sich gut überlegen. In Zeiten wie diesen erschlägt ein Mann den anderen nur für die Kleider, die er am Leib trägt, und einen Gesetzlosen kann jeder ungestraft töten. Nächster Fall. Edmund Zimmermann beschuldigte Osfrith Lügner, ihm den Preis für ein neues Scheunentor schuldig geblieben zu sein. Da Osfrith ein bekannter Eidbrecher ist, konnte er die Klage nicht durch einen Unschuldsschwur abwenden, und ein Gottesurteil mußte entscheiden. Vater Cuthbert, wie steht es damit?«
»Edmund wählte die Feuerprobe. Osfrith hat vorschriftsmäßig drei Tage zuvor gefastet und sich dem Gottesurteil dann vorschriftsgemäß unterzogen«, krächzte der alte Priester. »Die Wunde war nach drei Tagen nicht brandig und ist inzwischen sauber verheilt.«
Alfred nickte. »Somit ist Osfrith unschuldig.« Er ignorierte das empörte Geraune aus der Umgebung des Zimmermanns und sah zu Cædmon. »Das war’s.«
Cædmon wandte sich an die Versammlung. »Wer eine Klage vorzubringen hat, möge nun sprechen.«
Offa Offason, der älteste Sohn des Schmieds, erhob sich von seinem Platz und trat vor die hohe Tafel. Er trug eine Binde über dem linken Auge. »Winfrid Fischer hat mir ein Auge ausgeschlagen, Thane«, verkündete er erbittert.
Ungläubig sah Cædmon zu Winfrid, einem kaum achtzehnjährigen jungen Mann, der als Waise in Vater Cuthberts Haus aufgewachsen und das friedfertigste Wesen war, das Cædmon sich vorstellen konnte. »Winfrid?« fragte er.
Der Junge bedachte seinen Kläger mit einem nachsichtigen Grinsen. »Du warst sternhagelvoll und bist unglücklich in einen Weißdornbusch gefallen, Offa. Schön, der Busch steht vor meiner Hütte, aber gefallen bist du , und gesoffen hast du auch ohne mein … Einwirken.« Es gab Gelächter.
Offa verschränkte die Arme und trat wütend einen Schritt näher an die Tafel. »Ich schwöre, daß er’s getan hat, und ich will Wergeld für mein Auge!«
Cædmon versuchte, nicht zu zeigen, wie sehr er den Sohn des Schmieds verabscheute, wie groß seine Mühe war, ihm zu glauben. Er war sicher, Winfrid sagte die Wahrheit: Offa hatte den Verlust des Auges seiner Trunkenheit zuzuschreiben, wollte aber ein Geschäft daraus machen. Doch was Cædmon glaubte oder nicht, war ohne jeden Belang.
»Also bitte, schwöre.«
»Ich schwöre vor Gott und allen Heiligen, daß ich nicht aus Haß oder Mißgunst oder unrechtmäßiger Habgier Klage erhebe«, begann Offa. Er leierte die festgeschriebene Formel ausdruckslos herunter. »Und ich schwöre vor Gott und allen Heiligen, daß Winfrid mir das Auge ausgeschlagen hat und mir ein Wergeld zusteht.«
»Das Wergeld beträgt zwanzig Schilling«, sagte Cædmon. »Wie steht es, Winfrid? Willst du zahlen?«
Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich könnte nicht, selbst wenn ich wollte. Und ich bin unschuldig.«
»Du hast Zeit bis zum nächsten Folcmot, zwölf Eidhelfer zu finden.« Um sich zu entlasten, reichte es nicht, daß der Beschuldigte selbst seine Unschuld beschwor, sondern er brauchte Männer, die wiederum die Richtigkeit seiner Worte beschworen. Da Winfrid keinerlei Verwandtschaft hatte, die ihn hätte unterstützen können, würde er vielleicht Mühe haben, die zwölf
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