Das zweite Königreich
waren englische Thanes dabei, die noch nie bei Hofe gewesen waren, und sie haben mich keinen Moment aus den Augen gelassen und alles getan, was ich tat. Guthric hat sie schließlich beiseite genommen und ihnen erklärt, daß es eine Marotte von mir sei, das Kinn an der Schulter zu reiben, wenn etwas mir Unbehagen bereite, keine geheimnisvolle normannische Sitte, die es nachzuahmen gelte …«
Aliesa lachte.
»Stimmt das?« fragte er noch immer ungläubig. »Habe ich so eine Marotte?«
Sie legte die Hand auf seine Wange und küßte ihn. »Aber natürlich! Das weißt du nicht? Immer schon, seit ich dich kenne. Leg sie nicht ab, Liebster. Sie ist so wunderbar.«
Er brummte gallig, ehe er fortfuhr: »Jedenfalls war es ein denkwürdiges Ereignis und hat, soweit ich es beurteilen kann, seinen Zweck erfüllt.Der König scheint wieder größeres Vertrauen in die Treue seiner Vasallen zu haben, umgekehrt ist auch den unwilligsten Hinterwäldlern unter seinen Vasallen von neuem bewußt geworden, was Königswürde und Lehnstreue bedeuten. Sie werden ihm folgen, ganz gleich, welche Teufelei er wieder ausheckt, und das weiß er. Gehobener Stimmung hat er Sarum verlassen. Alle waren gehobener Stimmung. Alle außer dem Bischof, versteht sich. Ich würde sagen, er ist ruiniert.«
Ein greller Blitz zuckte auf und beleuchtete für einen Augenblick die gespenstischen Wolkentürme am Nachthimmel. »Wenn es mit dem Wetter so weitergeht, werden wir das bald alle sein«, murmelte Aliesa beunruhigt.
Das Gewitter tobte schlimmer als alle, die Cædmon je erlebt hatte. Selbst Onkel Athelstan erklärte am nächsten Morgen, er könne sich an nichts Vergleichbares erinnern.
Der Donner war ein anhaltendes Dröhnen, das sich allenthalben zu einem ohrenbetäubenden Poltern steigerte, wenn einer der Blitze ein nahes Ziel gefunden hatte. In kurzen Abständen zuckten sie am pechschwarzen Himmel auf, der Wechsel zwischen Finsternis und ihrem grellen Licht schmerzte in den Augen. Der Wind heulte mit Furienstimmen, trieb den dichten, prasselnden Regen durchs Fenster herein, und die Balken der Halle ächzten unter seinem Ansturm. Cædmon und Aliesa saßen auf dem Bett, starrten unverwandt nach draußen, hielten sich eng umschlungen und fürchteten sich. Und als sie schon glaubten, das Unwetter lasse nach, als der Wind abflaute und der Donner zu verhallen schien, fing es an zu hageln.
Cædmon sprang vom Bett auf und stürzte ans Fenster.
»O nein. Bitte nicht …«
Die Blitze zeigten ihm ein Bild des Schreckens: Riesige Körner prasselten trommelnd auf die Erde nieder, manche dick wie Hühnereier. Minutenlang schleuderte der Himmel sie herab, bis sie den Hof und das Land, so weit das Auge reichte, mit einem tödlichen weißen Teppich bedeckten und jede Ähre in den Boden gestampft hatten, die noch auf dem Feld stand.
»Gott, was tust du?« flüsterte Cædmon heiser. »Schlägst du das Land mit Plagen, weil das Herz des Königs verstockt ist?«
Aliesa trat neben ihn. Ohne es zu merken, hatte sie schützend die Hände um ihren gewölbten Bauch gelegt. »Cædmon?«
Er sah sie an. »Erst die Viehseuche. Dann der Hagel. Was kommt als nächstes? Heuschrecken?«
Er bekam die Antwort schneller, als ihm lieb war. Es klopfte an der Tür, und Alfred rief: »Thane?«
Cædmon hörte an der Stimme, daß sein Vetter eine Hiobsbotschaft brachte, und kniff einen Moment die Augen zu. »Komm rein, Alfred.«
Die Tür flog auf. Alfred stand mit einer Öllampe auf der Schwelle, sein Gesicht wirkte fahl in ihrem schwachen, zuckenden Schimmer. »Cædmon, der Blitz hat die Scheune getroffen. Sie brennt lichterloh. Das bißchen Korn, das wir hatten, ist dahin.«
Cædmon hörte Aliesas halb unterdrückten Schreckenslaut und legte einen Arm um ihre Schultern. Aber mehr Trost hatte er ihr nicht zu bieten. Er dachte fassungslos, mit welch schwindelerregender Schnelligkeit ein wohlhabender Mann an den Bettelstab kommen und alle Sicherheit, die man sich vorgaukelte, zum Teufel gehen konnte.
»Wir werden hungern«, sagte er.
Am nächsten Morgen ritten Cædmon und Alfred ins Dorf und am Ouse entlang bis nach Metcombe, um festzustellen, wie groß die übrigen Schäden waren, während Aliesa, Irmingard, Onkel Athelstan und Bruder Oswald versuchten, die verängstigten Menschen auf Burg und Gut zu beruhigen und erste Maßnahmen für den bevorstehenden Hungerwinter zu treffen. Ab sofort wurden alle Lebensmittel streng rationiert und sämtliche Vorratsräume
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