Das zweite Königreich
Athelstan?« Irmingard senkte den Blick. »Heute morgen schien das Fieber ein wenig gesunken. Aber jetzt brennt er wieder. Er vergeht vor meinen Augen. Nein, ich fürchte, er schafft es nicht. Aber mein Schwiegervater ist ein alter Mann«, fügte sie hastig hinzu. »Deine Frau ist in den besten Jahren. Das ist etwas anderes.«
Er nickte wiederum, auch wenn sie beide wußten, daß schon jüngere und robustere an diesem tückischen Fieber gestorben waren. Am Tag des heiligen Königs Edmund im November hatte Aliesa ein gesundes Mädchen zur Welt gebracht. Die Geburt war reibungsloser verlaufen als alle vorherigen, aber sie kam nur langsam wieder zu Kräften, und ehe sie ganz wiederhergestellt war, hatte das Fieber sie erwischt.
Irmingard zögerte, dann gab sie sich einen Ruck. »Es tut mir leid, daß ich dich damit behellige, aber Alfred sagt, ich müsse mit dir reden. Esist soweit. Unsere Vorräte sind erschöpft. Morgen früh kann ich allen noch etwas vorsetzen, morgen abend ist Schluß. Das einzige, was wir noch haben, ist Honig. Du mußt etwas tun, Cædmon.«
Ihre Mitteilung ließ ihn scheinbar unberührt. Aber nach einem kurzen Schweigen sagte er: »Ist gut. Morgen reite ich auf die Jagd, es bleibt uns nichts anderes übrig.«
Sie hatten getan, was sie konnten. Nüsse, Bucheckern, sogar Eicheln gesammelt, aus denen man eine Art Mehl herstellen konnte. Es schmeckte bitter, aber es machte satt. Die Pilze hatten sie tatsächlich über den Oktober gebracht. Zwiebeln, Äpfel und weiße Rüben hatten bis Weihnachten gereicht, den letzten Käse hatten sie am Dreikönigstag gegessen, an diesem Abend das letzte Pökelfleisch. Doch kurz vor der Jahreswende hatte eisige Kälte eingesetzt, und der Ouse und alle Seen und Tümpel waren zugefroren. Die Leute schlugen Löcher ins Eis, um zu fischen, aber die Ausbeute war mager. Und als die Menschen glaubten, daß es schlimmer nicht mehr werden könne und Gott nun endlich mit ihnen fertig sei, waren die ersten Fieberfälle aufgetreten. Rasend schnell wie ein Feuer im Schilf verbreitete die Epidemie sich unter den geschwächten Menschen und raffte sie dahin. Als Cædmon erkannte, wie groß die Ansteckungsgefahr war, hatte er Aliesa mit Bruder Oswald und den Kindern nach Ely schicken wollen. Er hoffte, daß die Seuche die abgelegene Klosterinsel noch nicht erreicht hatte. Aber der Schnee machte eine Überquerung der Sümpfe unmöglich.
Nachdem Irmingard sie allein gelassen hatte, betrachtete er wieder eingehend das Gesicht seiner Frau. Es war bleich und mager, aber das war nichts Besonderes – jeder in Helmsby war derzeit bleich und mager. Was ihn bannte, war das Bild des Friedens, das sie bot. Sie lag auf der Seite, das Gesicht ihm zugewandt, eine Hand unter der Wange. Die langen, geschwungenen Wimpern, die ihn von Anfang an so entzückt hatten, lagen wie ein hauchfeiner Schleier oberhalb des ausgeprägten Jochbeins, und ihr Mund lächelte.
Unendlich behutsam, schüchtern wie der Knabe, der sich vor zweiundzwanzig Jahren in sie verliebt hatte, legte er die Hand auf ihre Stirn. Unverändert. Sie glühte. Heute war der letzte Tag der zweiten Woche. Er wußte, wenn das Fieber morgen oder übermorgen nicht zurückging, war sie einer der hoffnungslosen Fälle.
Als es wieder an der Tür zu ihrer Kammer klopfte, rechnete er mitAlfred, aber tatsächlich war es die Amme, die auf seinen leisen Ruf hin hereinhuschte. Die kleine Marie schlief in ihren Armen.
Cædmon stand hastig von der Bettkante auf und trat ihr entgegen. »Hab ich dir nicht gesagt, daß du die Kinder auf keinen Fall herbringen sollst?« fuhr er sie an, gedämpft, aber unmißverständlich scharf.
Die Amme war ein vierzehnjähriges Mädchen aus dem Dorf, dessen eigenes Kind gleich nach der Geburt gestorben war. Viele Neugeborene waren diesen Winter gestorben, und die jungen Frauen hätten alle nur zu gern die Aufgabe der Amme für Cædmons jüngste Tochter übernommen, denn auf der Burg war die Not nicht so groß wie bei ihnen. Cædmon und Aliesa hatten sich für die junge Annot entschieden, weil sie kräftiger schien als die anderen und reichlich Milch hatte. Doch Erfahrung mit Kindern hatte sie nicht – es war ihr Erstgeborenes gewesen, das sie verloren hatte –, und sobald etwas schiefging, fing sie an zu heulen. So wie jetzt.
»Verzeiht mir, Thane, ich …«
Er riß sich zusammen, nahm ihren Arm, führte sie auf den Gang hinaus und schloß die Tür. »Was ist es?«
»Ich weiß nicht.« Sie schüttelte den
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