Das zweite Königreich
verschlossen. Nur in Aliesas Begleitung konnte die Köchin jetzt ihre Zutaten zusammensuchen, niemand mehr zwischen den Mahlzeiten in die Vorratskammer schleichen und sich ein Stück Brot oder einen Schluck Bier genehmigen.
Richard, Matilda und die anderen Kinder merkten natürlich, daß die Erwachsenen besorgt waren und sich eigenartig verhielten. Matilda war ungewöhnlich still, sah sich mit riesigen, unruhigen Augen um und wich nicht von der Seite ihrer Mutter. Richard versuchte, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, aber selbst das kärgliche Frühstück, das Helen ihm vorsetzte, brachte er nicht herunter. Cædmon nahm ihn kurzerhand mit, setzte ihn vor sich in den Sattel und erklärte ihm unterwegs, was passiert war. Er fand, es hatte keinen Sinn, seinem Sohn etwas vorzumachen, er würde früher oder später ja doch merken, daß sie für den Winter nicht genug zu essen hatten. Besser, er machte sich damit vertraut.
»Aber wir haben Geld«, erinnerte der Junge ihn. »Können wir kein Korn kaufen?«
»Wir haben nicht viel Geld«, entgegnete Cædmon. »Wir mußten dem König hohe Steuern zahlen, verstehst du. Und weil ganz England von der Mißernte betroffen ist, wird Getreide teuer. Außerdem müssen wir wenigstens acht neue Ochsen kaufen, denn wenn wir im Winter nicht pflügen können, werden wir nie wieder etwas ernten.« Er brach unvermittelt ab, als ihm aufging, daß durch das Rindersterben vermutlich auch die Preise für Ochsen in die Höhe schnellen würden.
»Bekommst du nach der Ernte denn nicht neues Geld?« fragte Richard. »So viele Bauern schulden dir Pacht.«
»Aber sie leiden unter der Mißernte genau wie wir, und auch ihre Ochsen sind verendet. Außerdem müssen sie irgendwie den Zehnten für die Kirche aufbringen und zusätzlich den St.-Peters-Penny, den der König jedes Jahr zu Michaelis erhebt und dem Papst in Rom schickt. Nein, ich denke, mit Pachteinnahmen sollten wir lieber nicht rechnen.« Richard hatte noch eine Idee. »Was ist mit unserem Wald? Kannst du nicht jagen gehen?«
Cædmon wechselte einen Blick mit Alfred, ehe er sagte: »Nein, Richard, das darf ich nicht.«
»Aber wieso das denn nicht?« fragte der Junge verständnislos. »Der Wald gehört dir!«
»Streng genommen gehört mir gar nichts und dem König alles.« Und William hatte die Forstgesetze noch einmal verschärft: Keiner seiner Vasallen durfte in den Wäldern, die zu seinem Lehen gehörten, jagen, wenn er keine königliche Urkunde besaß, die ihm dieses Privileg zugestand. Eine solche Erlaubnis bekam man, wenn man das Glück hatte, den König in einem günstigen Augenblick darum zu bitten – und wenn man gewillt und in der Lage war, den Preis für eine solche Urkunde zu zahlen. Auf Cædmon traf weder das eine noch das andere zu. Ehe eines seiner Kinder oder sonst jemand in der Halle verhungerte, würde er vermutlich trotzdem in seinem Wald auf die Jagd gehen, aber wenn Lucien de Ponthieu, der als Sheriff die Einhaltung der Forstgesetze zu überwachen hatte, ihn erwischte, dann käme er in Teufels Küche. Ein Mörder konnte von König William eher Gnade erhoffen als ein Wilderer.
»Wir haben immer noch den Fluß und das Moor«, sagte er zu Richard. »Hab keine Angst, mein Junge. Es wird ein harter Winter, daran kannes keinen Zweifel geben, aber wir werden schon zurechtkommen. Wir sind immer noch um vieles glücklicher dran als die einfachen Bauern, denn auch wenn alle Kühe verendet sind, haben wir immer noch unsere Schweine und Ziegen, und wir können auch ein paar Schafe schlachten.« Aber seine Schafherden waren in den vergangenen Jahren schon geschrumpft, weil er immer Tiere hatte verkaufen müssen, um die Steuern zu bezahlen, und jedes geschlachtete Schaf bedeutete einen Einkommensverlust in kommenden Jahren. Das war keine Lösung. Zu viele Menschen aßen an seinem Tisch, als daß er sie alle nur mit Fleisch hätte über den Winter bringen können. »Es gibt auch noch andere Möglichkeiten. Dein Patenonkel Alfred hier zum Beispiel versteht sich auf Pilze. Wenn es Herbst wird, kannst du mit ihm in den Wald reiten, und er bringt dir bei, welche eßbar sind. So kommen wir schon bis in den November, wenn ihr genug sammelt.«
»Ja, ich könnte weiß Gott Hilfe beim Pilzesammeln gebrauchen«, stimmte Alfred zu. »Ich kann doch auf dich zählen, Richard?«
»Natürlich!« versprach der Junge eifrig, offenbar dankbar, daß es etwas gab, das er tun konnte, um die drohende Not zu lindern.
Cædmon wurde ganz warm
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