Das zweite Königreich
brach ihr auf Stirn und Rücken aus, mit einem erstickten Laut wandte sie sich ab und floh auf unsicheren Beinen. Sie kam bis zum Hühnerhaus. Hinter dem kleinen Holzschuppen fiel sie auf die Knie und erbrach sich. Weil sie gleichzeitig weinte, geriet sie bald in Atemnot. Sie keuchte erstickt, aber das Würgen ließ nicht nach. Heiße Galle schoß ihr in den Mund und drohte sie zu ersticken. Sie wimmerte und keuchte und rang röchelnd um Atem. Dann spürte sie eine Hand auf ihrem Rücken. Eine zweite legte sich auf ihre Stirn, und durch den grauen Schleier, der ihre Sinne vernebelte, nahm sie einen schwachen Grasduft wahr.
»Geh weg«, brachte sie mit Mühe hervor. »Verschwinde.«
»Ganz ruhig. Atme«, sagte er beschwichtigend. »Nur atmen. Gleich wird es besser, du wirst sehen.«
Ihr Körper entspannte sich tatsächlich ein wenig, die grauenvolle Enge in ihrer Kehle ließ nach. Doch die Übelkeit blieb. Hyld fiel kraftlos zur Seite und strich mit der rechten Hand durchs taufeuchte Gras.
»Warte. Rühr dich nicht vom Fleck.« Er richtete sich auf, ging eilig zum Brunnen und brachte ihr einen Becher Wasser. »Hier.«
Hyld spülte sich den Mund aus, aber sie konnte nicht trinken. Sie fühlte sich elend und hilflos. Mühsam stemmte sie sich in eine sitzende Haltung. »Danke.«
Erik hockte vor ihr im Gras und sah sie unverwandt an, seine dunklen Augen erschienen ihr riesig.
»Hyld …«
»Ja?«
»Wann hast du zum letztenmal geblutet?«
Ely, September 1065
Bruder Oswald wollte den letzten Rest Tageslicht vor der Komplet nutzen, um seine Illumination fertigzustellen. In letzter Zeit fand er große Freude an seiner Arbeit im Scriptorium und einen gänzlich unerwarteten inneren Frieden. Er arbeitete an einer Apostelgeschichte in lateinischer Sprache, die der Earl of Wessex hier in Auftrag gegeben hatte, wohl als Geschenk für seine junge normannische Braut. Die Bücher, die sie in Ely anfertigten, wurden im ganzen Land gepriesen. Essollte ein kostbares Buch werden, sie sollten nur nicht an Goldfarbe sparen, hatte Earl Harold dem Abt zu verstehen gegeben. Vater Thurstan hatte Bruder Oswald die Oberaufsicht über das Projekt und die Anfertigung der bebilderten Initialen übertragen, weil Oswald einer der begabtesten Künstler seines Klosters war. Ergeben hatte der junge Mönch eingewilligt, aber inzwischen hätte er die Aufgabe nur höchst ungern wieder aus den Händen gegeben.
Als er auf seinem Weg vom Refektorium zum Schreibsaal am Portal vorbeikam, hörte er den Bruder Pförtner sagen: »Was immer euer Anliegen sein mag, es muß bis morgen warten. Nach der Frühmesse könnt ihr wiederkommen.«
Er wollte die kleine Pforte in dem großen Tor schließen, aber eine schmale Hand legte sich auf die Tür und drückte nach innen. »Bitte«, flehte eine junge Mädchenstimme. »Es ist furchtbar wichtig, Bruder. Ich verspreche, ich werde ihn nicht so lange aufhalten, daß er zu spät zum Abendgebet kommt, aber …«
»Ich sage es jetzt zum letztenmal«, brummte der alte Pförtner. »Für heute seid ihr zu spät. Gott segne euch und gute Nacht!« Er stemmte sich gegen die Tür.
»Nein!« rief die junge Stimme, ebenso wütend wie verzweifelt.
Oswald trat zögernd näher. »Was gibt es denn, Bruder Sigebert?«
Der Pförtner wandte den Kopf, und seine Miene hellte sich auf, als er den Mitbruder sah. »Ah, Oswald! Hier ist eine junge Frau, die darauf besteht, noch heute mit deinem Schützling zu sprechen. Und sie ist hartnäckig. Vielleicht könntest du …«
Oswald trat noch einen Schritt näher. Der Bruder Pförtner zog die Tür einen Spaltbreit auf, vorsichtig, als fürchte er, jeden Moment werde von der anderen Seite ein Rammbock dagegendonnern. Oswald spähte hinaus. Er wußte sofort, wer das Mädchen war. »Hyld?«
»Bruder Oswald? Oh, Gott sei gepriesen.«
Er war nicht sicher, ob er sie wiedererkannt hätte, wäre sie Cædmon nicht so ähnlich gewesen. Bei ihrem Anblick überkamen ihn die Erinnerungen an ihr verrücktes Abenteuer in der Normandie wie ein wirrer Bilderreigen. »Ist etwas geschehen in Helmsby?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich muß mit Guthric sprechen. Noch heute. Bitte, Bruder, helft mir. Ich verspreche, es wird nicht lange dauern.« Oswald wandte sich an seinen Mitbruder. »Was hältst du von einer Ausnahme, Bruder Sigebert?«
Doch der Pförtner hob abwehrend die Hände. »Wie stellst du dir das vor? Was, denkst du, werde ich zu hören kriegen, wenn herauskommt, daß ich abends Damenbesuch zu
Weitere Kostenlose Bücher