Das zweite Königreich
…«
»Nein, Hyld, tu das nicht, bitte. Hör mir zu, du hast es versprochen.« Das hatte sie wirklich. Was für eine hinterhältige Falle. Ihre Gefühle waren in Aufruhr, sie hatte große Mühe, sich zu beherrschen. Sie war zum erstenmal in ihrem Leben verliebt, sie hatte keinerlei Erfahrung in diesen Dingen und niemanden, dem sie sich anvertrauen konnte. Was für ein Unglück, was für ein verfluchtes Pech, daß sie ihre Gefühle, ihren Seelenfrieden, nicht zuletzt ihre Unschuld ausgerechnet an den Neffen und den Spitzel eines feindlichen, kriegerischen Königs verschwendet hatte …
»Dann faß dich kurz«, forderte sie eisig.
Erik fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Hyld, euer König Edward, den du einen Heiligen nennst, ist ein alter, todkranker Mann. Und er hinterläßt keinen Erben.«
»Er hat einen Neffen von reinstem königlichen, angelsächsischen Blut.« »O ja. Der kleine Edgar. Wie alt ist er? Ungefähr gleichaltrig mit deinem Bruder Eadwig, nicht wahr? Genau der richtige König für so schwierige, unruhige Zeiten …«
»Selbst wenn. Ganz sicher wären wir mit ihm besser bedient als mit diesem verfluchten, norwegischen Satan!«
»Herrgott noch mal, Hyld, ich hatte keine große Wahl, als er mir angeboten hat, mich in seinen Dienst zu nehmen, weißt du. Meine Eltern waren tot, in Haithabu hatten wir nur meinen Onkel, und was für ein Mann er war, kannst du unschwer daran erkennen, daß er ohne jede Notwendigkeit, ohne jedes Recht den Angriff auf Metcombe befohlen hat. Er war ein Scheusal. Und meine kleine Schwester und mein Bruder waren ihm ausgeliefert. Schon allein ihretwegen mußte ich es tun. Harald Hårderåde ist kein Satan, glaub mir. Er könnte England ein ebenso guter König sein wie Knut.«
»Oh, das ist wunderbar. Nur leider wollen wir ihn nicht! Wir suchen uns unsere Könige doch ganz gern selber aus!«
»Mach dir nichts vor. Es gibt in ganz England niemanden, der einen begründeteren Anspruch auf die Krone hat als er. Ich sage dir, was passieren würde: Sie würden den kleinen Edgar der Form halber auf denThron setzen, und dann würden die beiden mächtigen, verfeindeten Adelsgeschlechter, die ihr hier habt, um die Macht ringen, und im Handumdrehen hättet ihr einen blutigen Krieg im Lande: das Haus Mercia gegen das Haus Godwinson.«
»Es müßte nicht so kommen«, widersprach sie aufgebracht.
»Dann sag du mir, was passieren soll, wenn König Edward stirbt.«
Hyld hatte keine Ahnung. Sie kannte sich mit diesen Dingen nicht gut genug aus. »Ich weiß es nicht, Erik. Ich weiß nur, daß wir ganz sicher keinen norwegischen König wollen.« Sie streckte die Hand nach ihm aus und zog sie hastig zurück, als sie merkte, was sie tat. »Ich kann verstehen, daß dir nicht viel anderes übrigblieb. Aber was immer du glaubst, für Harald Hårderåde tun zu müssen, ich kann nicht mitkommen. Du hast mir meine Entscheidung leicht gemacht.«
Erik hatte die Arme auf den angewinkelten Knien gekreuzt und den Kopf darauf gebettet. Es wird hell, dachte Hyld flüchtig. Sie spürte einen fast übermächtigen Drang, die Hand auf diesen gesenkten Kopf zu legen, die Finger in den dunklen Locken zu vergraben, aber sie beherrschte sich. Sie sah noch einen Moment auf ihn hinab, dann räusperte sie sich entschlossen. »Leb wohl, Erik.«
Er hob den Kopf und sah zu ihr auf. »Wie kannst du das tun?« fragte er verständnislos.
»Oh, das ist nicht fair«, protestierte sie. Sie ballte die Fäuste und blinzelte entschlossen, aber die Tränen waren hartnäckig und zahlreich, sie ließen sich nicht länger hinunterwürgen. »Du hast einen Eid geleistet, den du für mich nicht brechen willst, aber du verlangst von mir, daß ich für dich meinen Vater und meine Mutter und meinen König und mein Land verrate! Was denkst du dir eigentlich?«
»Ich verlange keineswegs, daß du irgend jemanden verrätst«, widersprach er heftig. »Ich habe nicht vor, eurem König auf seinem Weg ins Jenseits auf die Sprünge zu helfen oder ähnliches, falls du das annimmst.«
»Sondern was? Was hat dich plötzlich zu der Erkenntnis gebracht, daß du sofort aufbrechen mußt? Was hat dein Eid mit den Neuigkeiten zu tun, die mein Vater aus Ely mitgebracht hat?«
»Wozu willst du das wissen? Um es deinem Vater zu erzählen? Oder Dunstan?«
Hyld wich zurück, als habe er sie geohrfeigt. Ihr Mund öffnete sich, aber sie wußte nichts zu sagen. Und plötzlich überkam sie eine gewaltige,graue Welle der Übelkeit. Kalter Schweiß
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