Das zweite Königreich
»Deinen Sinn fürs Praktische habe ich schon immer bewundert. Komm. Sie wohnen in Coppergate. Ich glaube, wir müssen hier entlang.«
Eriks Onkel Olaf war ein reicher Seidenhändler und besaß ein großes, aus Eichenbalken gezimmertes Haus in einem der wohlhabendsten Viertel der Stadt. Wie alle Grundstücke in York war auch seines schmal – die Straßenfront nur zwölf Fuß breit – aber tief. Hinter dem Haupthaus, das er und seine Familie bewohnten, lagen das Lagerhaus und einige kleinere Gebäude, die er als Läden und Werkstätten an Handwerker verpachtete.
Nachdem Erik seinem Onkel erklärt hatte, wer er war, wurden sie mit großer Herzlichkeit aufgenommen. Zum Glück, denn das Wetter war endgültig umgeschlagen, ein eisiger, windgepeitschter Regen prasselte gegen Holzläden und Dachschindeln und verwandelte die Straßen der großen Stadt in schlammige Bäche.
Ungeachtet dessen durchkämmten die Männer der Wache die Gegend – auch nach Tagen noch. Sie suchten einen jungen, schwarzhaarigen Dänen in Begleitung eines englischen Mädchens. Das wußte Olaf zu berichten, als er vom Tuchmarkt und dem Gildehaus heimkam.
»Aber morgen sind wir diese Sorge los«, verkündete er eines Abends, als Hyld und Erik seit etwa einer Woche in seinem Haus lebten. »Es wird erzählt, Morcar habe akzeptiert. Er ist der neue Earl of Northumbria. Und morgen zieht er mit allen Männern, die er kriegen kann, nach Süden.« »Es gibt Krieg?« fragte Hyld erschrocken.
Der grauhaarige, stattliche Kaufmann hob die Schultern. »Das wäremöglich, mein Kind. Der König betrachtet den Aufstand der Thanes von Northumbria als offene Rebellion und hat angekündigt, das Fyrd – euer angelsächsisches Heer – zu den Waffen zu rufen.«
Hyld bekreuzigte sich. »Gott beschützte Vater und Dunstan«, murmelte sie.
Erik schnitt eine verstohlene Grimasse.
»Edwin, der Earl of Mercia, wird seinem Bruder Morcar gewiß zur Seite stehen«, fuhr der Onkel fort. »Also stehen Edwins und Morcars Truppen dem König und dem Fyrd gegenüber. Ich denke, alles wird davon abhängen, was Harold Godwinson tut.«
Erik stand auf, stellte sich ans Fenster und verschränkte die Arme. »Dann sind Tostigs Tage in England gezählt«, murmelte er.
Sein Onkel sah ihn scharf an. »Du glaubst, Harold Godwinson wird sich gegen seinen eigenen Bruder und gegen den König stellen?«
Erik wies auf Hyld. »Godwinson hat ihrem Vater so gut wie gesagt, daß er seinen Bruder mit Freuden fallenlassen würde, wenn er damit einen Bürgerkrieg verhindern könnte. War’s nicht so, Hyld?«
Sie funkelte ihn böse an. »Ich werde nicht wiederholen, was mein Vater vertraulich im Kreise seiner Familie gesagt hat!«
Er biß sich schuldbewußt auf die Unterlippe. »Entschuldige …«
Olaf lächelte verstohlen. »Wie dem auch sei«, sagte er dann zu Erik. »Wenn es so kommt, wie du denkst, dann ist jetzt der richtige Zeitpunkt, Tostig deine Botschaft zu überbringen. Er ist mit König Edward in Britford in Wiltshire. Du mußt hingehen.«
»Nein«, widersprach Hyld impulsiv.
Der ältere Mann legte ihr mitfühlend die Hand auf den Arm. »Ich kann deine Gefühle verstehen, Kind, aber Erik ist durch Eid gebunden.« »Ihr versteht nicht«, entgegnete sie ungeduldig. »Tostig ist bei König Edward, sagt Ihr. Nun, früher oder später wird Earl Harold auch zum König gehen, um ihn zu überzeugen oder zu zwingen, sich seinem Standpunkt anzuschließen.«
»Und?« fragte der Onkel verständnislos.
Hyld wechselte einen Blick mit Erik, und dieser hob seufzend die Schultern. »Ihr Bruder wird in Godwinsons Gefolge sein. Vielleicht auch ihr Vater. Und wenn sie mich sehen, bin ich ein toter Mann.« Der Onkel runzelte die Stirn, dann blickte er seinen Neffen scharf an. »Ich glaube, es wird Zeit, daß du mir ein bißchen mehr über dich und deine schöne, junge englische Frau erzählst, mein Junge …«
Am zwölften Oktober, dem Namensfest des heiligen Wilfred, wurden Hyld und Erik am Portal der eben diesem Heiligen geweihten Kirche in Coppergate getraut. Eriks Onkel übernahm alle Kosten, und auch wenn keiner der Brautleute in York weitere Verwandtschaft hatte, die man zur Feier hätte laden können, bereitete er ihnen doch im Kreise seiner Familie ein denkwürdiges Festmahl mit Reh- und Schwanenbraten, feinstem Gemüse, süßem Obst in dicker Sahne, Kuchen, Honigmet und Wein. Erik war so gerührt von der Freundlichkeit dieses Onkels, der ihn doch eigentlich gar nicht kannte, daß er
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