Das zweite Leben
ihre Speicherkapazität durch den Anhänger vervielfacht worden war, ließ sie sich durch keine Tricks mehr erweichen. Strikte Bettruhe bis auf weiteres …
Fast ein Jahr war vergangen, seit Ross zum erstenmal die Autorität der Schwester zu spüren bekommen hatte. Er dachte mit Grauen daran zurück. Ross hatte dringende und wichtige Arbeiten zu erledigen, und nun das. Außerdem würde er wieder zu denken beginnen und die Bilder vergangener Zeiten sehen.
Doch dann sagte er sich, daß er noch sein ganzes Leben vor sich hatte und niemandem geholfen wäre, wenn er sich zu Tode schuftete. Wenn es Überlebende gab, würden sie auch noch ein paar Monate auf ihn warten können. Warum also dann die Hast?
Es steckte mehr dahinter als nur die Sehnsucht, endlich wieder die Stimme eines Menschen zu hören. Ross spürte es, doch er konnte es nicht erklären. Ein Drang war in ihm, der stärker war als alle Vernunft – etwas, das ihn in Alpträumen quälte und nachts schweißgebadet aufwachen ließ.
8.
Manchmal träumte er, daß er durch die schwarze Asche auf ein von Bäumen umgebenes Anwesen zulief. Er hörte Kinder lachen und eine Frau singen. Er rannte, doch immer wieder bewegte das Haus sich von ihm fort, bis es in den Aschewolken verschwand. Dann wieder schwamm er im schwarzen Meer auf eine paradiesische Insel zu, wo glückliche Menschen sich zwischen Palmen bewegten, bis sie von den grauen Nebeln verschluckt wurden. Es gab viele ähnliche Träume, doch wie ein roter Faden zog sich immer wieder die furchtbare Angst durch sie, daß er zu spät kommen oder niemals Erfolg haben würde. Laufen, rennen, arbeiten und sich verausgaben, um das Ziel zu erreichen – irgend etwas in seinem Unterbewußtsein ließ ihm keine Ruhe. Doch so sehr er versuchte, die Träume zu analysieren und die Ursache seiner fürchterlichen Unrast herauszufinden – sie blieb verborgen.
Strikte Bettruhe, lautete die monotone Antwort der Schwester auf alle Bitten, wenigstens aufstehen und einige Stunden in der Bücherei lesen zu dürfen. Immerhin brachte sie ihm Lektüre, leichte und zur Entspannung geeignete Lektüre, wie sie sagte. Ross zweifelte fast an seinem Verstand, als er die Liebesromane sah. Nach den ersten Seiten schleuderte er sie gegen eine Wand. Sie handelten von Menschen, von Männern wie ihm und Frauen wie Alice.
Noch einmal versuchte er, 5B mit vorgetäuschten Selbstmordabsichten oder der Drohung, daß er bald an seinen Depressionen sterben würde, umzustimmen. Doch die Schwester hatte mittlerweile alle im Hospital vorhandenen Bücher über Psychologie gelesen …
Überhaupt erschien sie nun intelligenter und manchmal fast menschlich, so daß Ross immer öfter vergaß, daß er es mit einer Maschine zu tun hatte. Dann und wann versuchte er sie mit Wortspielereien hereinzulegen, und mit der Zeit fand er immer mehr Gefallen daran. Wenigstens ließ sich so die Gefangenschaft, die das Aufstehverbot für Ross darstellte, leichter ertragen. Eines Tages fragte er: »Weißt du, was man damit meint, wenn man von einer Lüge spricht, oder davon, jemandem einen Gefallen zu tun?«
»Jemandem einen Gefallen tun bedeutet, ihm zu helfen oder einen Wunsch zu erfüllen«, definierte 5B, »und eine Lüge ist nach dem, was ich gelesen habe, die willentliche Umkehrung von Daten, so daß sich eine unvollständige oder falsche Information ergibt.«
»Akzeptiert«, sagte Ross. »Du würdest mir also einen Gefallen tun, aber niemals versuchen, mich anzulügen, richtig?«
»Korrekt, Mr. Ross.«
»Aber wenn du mich nun anlügen müßtest, um mir einen Gefallen zu tun, weil ich Schaden nehmen würde, wenn ich die Wahrheit erführe, was dann? Nehmen wir an, ich arbeite an einem Projekt, von dem du aufgrund deiner Daten wüßtest, daß es letztlich scheitern wird. Würdest du mich anlügen, um mich nicht unglücklich zu machen, oder würdest du die Wahrheit sagen, obwohl du wüßtest, daß ich daran zerbrechen würde?«
Als 5B ausweichende Antworten gab, sagte Ross geduldig:
»Hör zu. Was ich erreichen will, ist, daß du lernst, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich will dir den Unterschied zwischen wirklicher und falsch verstandener Hilfeleistung klarmachen, damit du eines Tages …«
»Nur ein Mensch kann freie Entscheidungen treffen«, unterbrach die Schwester ihren Patienten. »Kein Roboter ist in der Lage …«
»Eigeninitiative zu entwickeln? Aber genau das hast du getan, als du Beethoven und den Lautsprecher in meine Tiefschlafkammer
Weitere Kostenlose Bücher