Das zweite Leben
Tausender von auf ihnen herumtrampelnder Füße erholten. Tully kannte dies. Anderen Menschen wäre es unheimlich vorgekommen. Jemand, der versehentlich eingeschlossen worden wäre, hätte wohl überall Gespenster in der Dunkelheit gesehen. Nicht, daß Tully keine Phantasie gehabt hätte. Das Gegenteil war der Fall, doch er bildete sich ein, sie unter Kontrolle zu haben. Für Horrorgeschichten hatte er nicht viel übrig. Tully schwärmte für Science Fiction, doch für reale Science Fiction. Keine Spukgestalten oder grünen Männchen, sondern packende Raumfahrtabenteuer oder Zeitreisen.
So ging er zwischen den dunklen Verkaufstischen auf und ab, achtete nicht auf die Geräusche, dafür aber um so mehr auf die Gerüche, und machte sich die gleichen Gedanken wie immer, wenn er allein im Warenhaus war – über seine Arbeit und schließlich über sich selbst.
Er war intelligent, belesen – wobei er nicht nur Science Fiction verschlang, sondern auch andere Lektüre – und ein ziemlich fauler Mensch. Er war zufrieden mit seiner Arbeit, obwohl die wenigen wirklichen Freunde, die er besaß, ihm immer wieder sagten, daß ein Kerl wie er anderswo viel mehr Geld verdienen könnte. Doch Schreibtischarbeiten waren nicht nach Tullys Geschmack. Die Aufgabe als Nachtwächter reizte ihn. Jeden Abend begann er seine Rundgänge mit dem gleichen prickelnden Gefühl, daß etwas Ungewöhnliches geschehen könnte. Und in den Pausen hatte er Zeit, seine aus den Regalen entliehenen Magazine zu lesen. Was wollte er mehr?
Zwanzig Uhr dreißig. Tully hatte die dritte Etage inspiziert und ging vom erleuchteten Aufzug zur Personaltreppe. Auf dem Weg zum vierten Stock spannte er wieder die schwarzen Fäden quer darüber. Das würde er tun, bis er ganz oben angelangt war. Wer immer sich über die dunklen Stufen einschleichen wollte, würde eine deutliche Spur hinterlassen. Tully fühlte sich großartig. Nein, seine Arbeit war nicht langweilig. Die verstümmelten Puppen stellten eine Herausforderung dar, etwas, in das er sich hineinstürzen konnte. Das war Tully die paar Dollar wert, die er weniger verdiente als in sogenannten besseren Stellungen.
Tully hielt sich länger als gewöhnlich im vierten Stock auf, in dem sich Steeles Büro befand. Er setzte sich in den Stuhl des Managers. Dann sah er die Puppe im Papierkorb. Er holte sie heraus und betrachtete sie eingehend. Zunächst bemerkte er nichts Neues. Dann aber fiel ihm auf, daß das Haar nicht systemlos ausgerissen worden war; vielmehr sah es so aus, als ob nur an gewissen Stellen die Kunststoffasern entfernt und die verbliebenen Haare wie zu Zöpfen verknotet waren. Unwillkürlich hob er die Puppe und roch daran.
Ein merkwürdiger, fast unidentifizierbarer Geruch.
Pfefferminz?
Tully wußte nicht, was plötzlich über ihn kam. Er schleuderte die Puppe in den Abfallkorb zurück. Seine Phantasie mußte ihm einen Streich spielen. Es war weit hergeholt, einen Zusammenhang zwischen den Puppen und den fehlenden Geräten aus Tysons Abteilung herzustellen.
Tully verließ Steeles Büro und untersuchte den fünften Stock und das darüber liegende Dachgeschoß. Keine Zigarettenstummel, kein Unbekannter, der sich im Aufzug versteckt hielt. Um 21 Uhr zwanzig machte Tully sich auf den Weg zu seinem kleinen Wachstübchen, um den Kaffee fürs erste Abendessen aufzusetzen. Unterwegs sah er sich hier und da noch einmal um und kontrollierte einige der gespannten Fäden. Es war 21 Uhr vierzig, als er allein in seiner Stube saß.
Er trank den Kaffee und verschlang die Butterbrote, ehe er sich auf die zweite Runde machte und danach in der Buchabteilung einen Klappstuhl aufstellte. Tully setzte sich, streckte die Beine behaglich aus und zog das Magazin, das er auf dem Weg zum Warenhaus neu an einem Kiosk gefunden hatte, aus der Tasche. Erst jetzt begann die Nacht für ihn. Tully hatte sich daran gewöhnt, seine Runden in unregelmäßigen Abständen zu absolvieren. Kein Einbrecher, dem das Unmögliche gelang, ins Warenhaus zu kommen, würde sich darauf verlassen können, daß der Nachtwächter genau um diese und jene Uhrzeit diesen oder jenen Weg nahm. Das System war denkbar einfach. Tully las die Stories in seinen Magazinen. Eine Story – eine Runde. Und die Geschichten waren unterschiedlich lang.
23 Uhr achtundfünfzig. Die dritte Runde war fällig. Tully war in Gedanken noch bei der eben zu Ende gelesenen Story und überlegte, daß es nur wenige Autoren gab, die das Zeug hatten, mit dem Thema PSI
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