Das zweite Zeichen
Mann beobachtete sie,
immer noch voller Angst, dann wandte er sich dem blutigen Gesicht der bewusstlosen Nell Stapleton
zu.
Der Mann, der die Tür öffnete, war blind.
»Ja?«, fragte er aus der offenen Tür heraus. Blicklose Augen schimmerten hinter den dunkelgrünen
Gläsern seiner Brille. Der Flur hinter ihm war dunkel. Wozu brauchte er auch Licht?
»Mr. Vanderhyde?«
Der Mann lächelte. »Ja?«, wiederholte er. Rebus konnte den Blick nicht von dem älteren Mann
losreißen. Diese grünen Gläser erinnerten ihn an Bordeauxflaschen. Vanderhyde musste etwa
fünfundsechzig sein, vielleicht sogar schon siebzig. Sein Haar war silbrig gelb, dicht und sehr
gepflegt. Er trug ein Hemd mit offenem Kragen und eine braune Weste, an der aus einer Tasche eine
Uhrkette hing. Und er stützte sich kaum merklich auf einen Stock mit silbernem Knauf. Aus
irgendeinem Grund kam Rebus der Gedanke, dass Vanderhyde wohl in der Lage sein würde, den Stock
rasch und effektiv als Waffe einzusetzen, sollte je ein unangenehmer Besucher vorbeikommen.
»Mr. Vanderhyde, ich bin Polizeibeamter.« Rebus griff nach seiner Brieftasche.
»Ersparen Sie sich die Mühe mit dem Ausweis, es sei denn, er ist in Braille.« Vanderhydes Worte
ließen Rebus mit der Hand in der Jackentasche erstarren.
»Natürlich«, murmelte er und kam sich absolut lächerlich vor.
Merkwürdig, wie behinderte Menschen die besondere Gabe hatten, einem das Gefühl zu geben, dass
man viel weniger konnte als sie.
»Sie sollten wohl besser reinkommen, Inspector.«
»Danke.« Rebus war bereits im Flur, bevor er es registrierte. »Woher wussten Sie...?«
Vanderhyde schüttelte den Kopf. »Auf gut Glück geraten«, sagte er und ging voran. »Ein Schuss ins
Schwarze, könnte man vielleicht sagen.« Sein Lachen klang schroff. Auch wenn er nur wenig vom
Flur erkennen konnte, fragte sich Rebus, wie selbst ein Blinder eine so furchtbare
Inneneinrichtung zu Stande bringen konnte. Eine ausgestopfte Eule starrte von ihrem staubigen
Sockel herunter, daneben stand ein Schirmständer, der wie ein ausgehöhlter Elefantenfuß aussah.
Auf einem mit Schnitzerei verzierten Tischchen lag ein Stapel ungelesener Post und ein
schnurloses Telefon. Letzteres betrachtete Rebus mit besonderem Interesse.
»Die Technik hat ja so große Fortschritte gemacht, finden Sie nicht?«, sagte Vanderhyde gerade.
»Von unschätzbarem Wert für diejenigen von uns, die einen ihrer Sinne verloren haben.«
»Ja«, antwortete Rebus, während Vanderhyde die Tür zu einem Zimmer öffnete, das für Rebus' Augen
fast genauso dunkel war wie der Flur.
»Hier herein, Inspector.«
»Danke.« Das Zimmer war muffig und hatte den typischen Geruch von Medikamenten und alten Leuten.
Mit einem großen Sofa und zwei schweren Sesseln war es bequem eingerichtet. Eine ganze Wand wurde
von Büchern eingenommen, die hinter Glas standen. Einige einfallslose Aquarelle verhinderten,
dass die anderen Wände kahl wirkten. Überall stand irgendwelcher Zierrat herum. Die Sachen auf
dem Kaminsims fielen Rebus besonders auf. Auf der breiten Holzfläche war kein Zentimeter mehr
frei, und die Stücke waren exotisch. Rebus erkannte afrikanische, karibische, asiatische und
orientalische Einflüsse, hätte aber keinem einzelnen Stück ein bestimmtes Land zuordnen
können.
Vanderhyde ließ sich in einen Sessel plumpsen. Rebus fiel auf, dass in dem Zimmer keine
Beistelltische oder sonstige überflüssige Möbel herumstanden, gegen die der blinde Mann hätte
stoßen können.
»Lauter Schnickschnack, Inspector. Plunder, den ich auf meinen Reisen als junger Mann
zusammengetragen habe.«
»Zeugnis ausgedehnter Reisen.«
»Zeugnis einer wahllosen Sammelwut«, korrigierte Vanderhyde.
»Möchten Sie einen Tee?«
»Nein danke, Sir.«
»Vielleicht etwas Stärkeres?«
»Danke, aber lieber nicht.« Rebus lächelte. »Ich hatte gestern Abend ein bisschen zu viel.«
»Man hört Ihrer Stimme an, wie Sie lächeln.«
»Sie scheinen gar nicht neugierig zu sein, weshalb ich hier bin, Mr. Vanderhyde.«
»Vielleicht deshalb nicht, weil ich es weiß, Inspector. Oder vielleicht, weil ich endlose
Geduld habe. Zeit bedeutet mir nicht so viel wie den meisten Leuten. Deshalb habe ich keine Eile,
Ihre Erklärungen zu hören. Ich schaue nämlich selten auf die Uhr.« Er lächelte wieder, die Augen
auf irgendeinen Punkt leicht rechts und etwas oberhalb von Rebus fixiert. Rebus schwieg, in der
Hoffnung, noch mehr über den Mann zu erfahren. »Andererseits«,
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