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Das zweite Zeichen

Titel: Das zweite Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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die eine Magisterarbeit schreiben mussten oder etwas aufzuarbeiten hatten, aber auch die ganz
wenigen, die sich wirklich für ihr Fach begeisterten und auf Sonne und Freizeit verzichteten, um
hier drinnen in Ruhe zu lernen.
Mit der Zeit kannte sie ihre Gesichter, dann ihre Namen. In der fast menschenleeren Cafeteria
geriet man häufiger in ein Gespräch, gab sich gegenseitig Literaturtipps. Und in der Mittagszeit
konnte man in der Grünanlage sitzen oder hinter der Bibliothek in The Meadows spazieren gehen, wo
ebenfalls Bücher gelesen wurden und in Gedanken versunkene Gesichter zu sehen waren.
Natürlich war der Sommer auch die Zeit für die eintönigsten Bibliotheksaufgaben.
Bestandsaufnahme, Reparatur malträtierter Bücher. Arbeiten an der Systematik, Computer-Updates
und so weiter.
Doch die Atmosphäre entschädigte einen reichlich dafür. Alle Spuren von Hektik waren
verschwunden. Es gab keine Beschwerden, dass zu wenige Exemplare von diesem oder jenem Buch da
wären, das dringend von einem Kurs mit zweihundert Studenten für einen längst überfälligen Essay
gebraucht wurde. Doch nach dem Sommer würden die neuen Studenten kommen, und mit Beginn jedes
Studienjahrs fühlte sie sich um genau dieses Jahr älter und weiter von den Studenten
entfernt.
Bereits jetzt kamen sie ihr unglaublich jung vor und strahlten etwas aus, das sie nie haben
würde.
Sie sah gerade die Liste der gewünschten Neuanschaffungen durch, als der Lärm losging. Die
Aufsicht am Bibliothekseingang hatte jemanden aufgehalten, der versucht hatte, ohne Ausweis
hereinzukommen.
Normalerweise hätte der Mann an der Pforte kein Aufsehen deswegen gemacht, doch das Mädchen war
so offenkundig verstört, so offenkundig keine Leserin, noch nicht mal eine Studentin. Sie stritt
laut herum, während eine Studentin nur ruhig erklärt hätte, dass sie ihren Ausweis zu Haus
vergessen hatte. Aber noch etwas war seltsam... Nell runzelte konzentriert die Stirn und
versuchte, das Mädchen einzuordnen. Als sie das Mädchen im Profil sah, erinnerte sie sich an das
Foto in Brians Aktenmappe. Ja, es war dasselbe Mädchen. Nein, eigentlich kein Mädchen, sondern
eine erwachsene, wenn auch jugendlich aussehende Frau. Die Falten um ihre Augen verrieten sie,
egal wie schlank ihr Körper war und wie modisch jung ihre Klamotten. Aber warum machte sie so ein
Theater? Sie war immer nur in die Cafeteria gegangen und hatte, soweit Nell wusste, bisher nie
versucht, in die Bibliothek selbst zu kommen. Nells Neugier war geweckt.
Der Mann hielt Tracy am Arm fest. Sie beschimpfte ihn wütend, ihre Augen blitzten. Nell
versuchte, Autorität in ihren Gang zu legen, während sie auf die beiden zuging.
»Gibt es ein Problem, Mr. Clarke?«
»Ich werd schon damit fertig, Miss.« Seine Augen straften seine Worte Lügen. Er schwitzte. Er war
längst über das Rentenalter hinaus und an derartige körperliche Auseinandersetzungen nicht
gewöhnt, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte. Nell sprach die Frau an.
»Sie können hier nicht einfach reinplatzen. Aber wenn Sie einem der Studenten da drinnen etwas
ausrichten wollen, werde ich sehen, was ich tun kann.«
Die Frau wehrte sich erneut. »Ich will bloß rein!« Jedes logische Argument prallte an ihr ab. Sie
hatte nur einen Gedanken: wenn man sie daran hinderte hineinzukommen, dann musste sie es
trotzdem irgendwie schaffen.
»Das können Sie aber nicht«, sagte Nell verärgert. Sie hätte sich nicht einmischen sollen. Sie
war daran gewöhnt, mit ruhigen und vernünftigen Menschen umzugehen. Okay, ab und zu drehte mal
jemand durch, weil er ein Buch nicht fand. Aber sie wurden nie ausfallend. Diese Frau starrte sie
an, und ihr Blick schien absolut bösartig. Es fehlte jede Spur von menschlicher Güte darin. Nell
spürte, wie sich ihr die Nackenhaare sträubten. Dann stieß die Frau einen durchdringenden Schrei
aus und machte einen so gewaltigen Satz nach vorn, dass der alte Mann sie loslassen musste. Ihre
Stirn knallte in Nells Gesicht. Die Bibliothekarin schien abzuheben, blieb aber wie angewurzelt
stehen und kippte dann um wie ein gefällter Baum. Einen Augenblick lang sah es so aus, als würde
Tracy wieder zur Vernunft kommen. Der Mann von der Pforte wollte sie sich schnappen, doch sie
kreischte erneut, und er wich zurück.
Dann schob sie sich an ihm vorbei durch die Bibliothekstür nach draußen und fing an zu laufen.
Sie hielt den Kopf gesenkt, Arme und Beine ruderten unkoordiniert. Der

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