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Das zweite Zeichen

Titel: Das zweite Zeichen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian Rankin
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versucht hat, eine falsche Spur zu legen, nachdem das Opfer bereits tot war.«
Vanderhyde drehte sich wieder um, und zwar so weit, dass sein Gesicht in Rebus' Richtung zeigte.
Er hob die Arme, um zu signalisieren, dass er keine weiteren Erklärungen zu bieten hatte.
Rebus setzte sich wieder hin. Als er den Becher noch einmal berührte, fühlte er sich nicht mehr
warm an. Die Spur war abgekühlt, hatte sich verflüchtigt, war nicht mehr da.
Er hob den Becher auf und betrachtete ihn. Ein ganz unschuldiges Ding mit einem Blumenmuster. Ein
einzelner Riss lief vom Rand nach unten. Plötzlich hatte Rebus eine Eingebung und war sogleich
überzeugt, dass er damit Recht hatte. Er stand wieder auf und ging zur Tür.
»Wollen Sie schon gehen?«
Er antwortete Vanderhyde nicht, sondern lief rasch zum Fuß der dunklen Eichentreppe. Auf halber
Strecke machte diese eine Biegung um neunzig Grad. Von unten konnte Rebus den kleinen
Treppenabsatz in der Mitte gut einsehen. Noch vor einer Sekunde war dort jemand gewesen, hatte
dort lauschend gekauert. Er hatte die Gestalt mehr gespürt als gesehen. Er räusperte sich,
eher aus Nervosität als aus Notwendigkeit.
»Komm da runter, Charlie.« Er hielt inne. Schweigen. Aber er konnte den jungen Mann immer noch
spüren, gleich hinter der Treppenbiegung.
»Es sein denn, du willst, dass ich raufkomme. Das willst du aber doch bestimmt nicht? Nur wir
beide, da oben im Dunkeln?« Weiteres Schweigen, das nur durch das Schlurfen von Vanderhydes
Pantoffeln und das Klopfen seines Spazierstocks auf dem Fußboden unterbrochen wurde. Als Rebus
sich umsah, stand der alte Mann mit trotzig vorgeschobenem Kinn da. Er hatte immer noch seinen
Stolz. Rebus fragte sich, ob ihm jemals etwas peinlich war.
Dann zeigte ein kurzes Knarren der Dielen an, dass Charlie auf den Treppenabsatz getreten
war.
Rebus verzog das Gesicht zu einem Lächeln, das siegesbewusst und erleichtert zugleich war. Er
hatte sich selbst vertraut und sich dieses Vertrauens als würdig erwiesen.
»Hallo, Charlie«, sagte er.
»Ich wollte sie nicht schlagen. Sie ist als Erste auf mich losgegangen.«
Charlies Stimme war deutlich zu hören, doch er schien auf dem Treppenabsatz angewurzelt zu sein.
Er stand leicht gebeugt da, sein Gesicht war nur als Silhouette zu erkennen, seine Arme hingen an
den Seiten herab. Die gebildete Stimme wirkte irgendwie körperlos, schien nicht zu dieser
schattenhaften Figur zu gehören.
»Warum kommst du nicht zu uns?«
»Wollen Sie mich verhaften?«
»Wie lautet die Anklage?« Die Frage kam von Rebus. Seine Stimme klang leicht amüsiert.
»Das hättest du fragen sollen, Charles«, rief Vanderhyde in belehrendem Tonfall.
Rebus hatte plötzlich genug von diesen Spielchen. »Komm runter«, befahl er. »Dann trinken wir
noch einen Earl Grey zusammen.«

Rebus hatte die dunkelroten Samtvorhänge im Wohnzimmer aufgezogen. Im restlichen Tageslicht
wirkte der Raum weniger voll gestopft, nicht mehr so überwältigend und ganz bestimmt weniger
unheimlich. Die Figürchen auf dem Kaminsims waren reiner Zierrat, nicht mehr und nicht weniger.
Die Bücher im Schrank stellten sich zum größten Teil als beliebte Werke der Literatur heraus:
Dickens, Hardy, Trollope. Rebus fragte sich, ob Trollope überhaupt noch gelesen wurde.
Während Charlie in der engen Küche Tee machte, saßen Vanderhyde und Rebus schweigend im
Wohnzimmer und lauschten dem leisen Klappern der Tassen und dem Klirren der Löffel.
»Sie haben ein gutes Gehör«, stellte Vanderhyde schließlich fest.
Rebus zuckte die Achseln. Er versuchte, sich immer noch ein Urteil über das Zimmer zu bilden.
Nein, leben könnte er hier nicht, aber er konnte sich zumindest vorstellen, einen älteren
Verwandten an so einem Ort zu besuchen.
»Ah, der Tee«, sagte Vanderhyde, als Charlie mit dem klappernden Tablett hereinkam. Während er
das Tablett zwischen den Sesseln und dem Sofa auf den Boden stellte, suchte er Rebus' Blick.
Seine Augen hatten einen flehenden Ausdruck. Rebus ging nicht darauf ein, sondern nahm mit einem
kurzen Nicken seine Tasse entgegen. Er wollte gerade bemerken, wie gut Charlie sich anscheinend
in seinem auserwählten Schlupfwinkel auskannte, da kam Charlie ihm zuvor. Er reichte Vanderhyde
einen Becher, der nur halb voll war ­ eine weise Vorsichtsmaßnahme. Dann nahm er die Hand des
alten Mannes und führte sie an den großen Henkel.
»So, Onkel Matthew«, sagte er.
»Danke, Charles«, sagte Vanderhyde, und wenn er hätte sehen

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