Das zweite Zeichen
Autofahren erwies sich als
Qual es war ihm fast unmöglich, die Pedale zu bedienen. Also hatte er sich mit einem Taxi zur
Sutherland Bar fahren lassen. Drei große Whiskys später spürte er an Stelle des Schmerzes eine
schläfrige Benommenheit.
» Als hätt ich vom Schierlingsbecher... «, murmelte er vor sich hin.
Er machte sich keine Sorgen um Tracy. Jeder mit einem solchen Schlag konnte ganz gut auf sich
selbst aufpassen. Auf der Straße gab's vermutlich Kids, die härter waren als die Hälfte der
verdammten Polizeitruppe. Nicht dass Tracy noch ein Kind gewesen wäre. Er hatte immer noch nichts
über sie herausgefunden. Das wäre eigentlich Holmes' Aufgabe gewesen, aber Holmes war in Fife und
jagte wilde Hunde. Nein, Tracy würde schon nichts passieren. Vermutlich war auch niemand hinter
ihr her gewesen. Aber warum war sie dann in jener Nacht zu ihm gekommen? Dafür könnte es hundert
Gründe geben.
Schließlich war sie auf diese Weise an ein Bett, mehr als eine halbe Flasche Wein, ein heißes Bad
und ein Frühstück gekommen. Nicht schlecht, und er war angeblich ein hart gesottener alter Bulle.
Zu alt vielleicht. Zu sehr »Bulle« und zu wenig Polizeibeamter. Vielleicht.
Wohin als Nächstes? Die Antwort darauf kannte er bereits. Sofern es seine Beine erlaubten und er,
mit Gottes Beistand, wieder fahren konnte.
Er parkte ein Stück vom Haus entfernt, um niemanden aufzuschrecken, wer auch immer da sein
mochte. Dann ging er einfach zur Tür und klopfte. Während er dort stand und wartete, erinnerte er
sich daran, wie Tracy diese Tür geöffnet hatte und ihm in die Arme gelaufen war, mit blauen
Flecken im Gesicht und Tränen in den Augen. Er glaubte nicht, dass Charlie da sein würde. Er
glaubte auch nicht, dass Tracy da sein würde. Er wollte nicht, dass Tracy da war.
Die Tür ging auf. Ein Junge im Teenageralter blinzelte Rebus verschlafen an. Er hatte glanzlose
strähnige Haare, die ihm in die Augen fielen.
»Wasis?«
»Ist Charlie da? Ich hab was mit ihm zu besprechen.«
»Nee. Hab ihn heute noch nich gesehn.«
»Okay, wenn ich einen Augenblick warte?«
»Ja.« Der Junge war bereits dabei, Rebus die Tür vor der Nase zuzumachen. Rebus drückte eine Hand
gegen die Tür und steckte den Kopf ins Haus.
»Ich meinte, drinnen warten.«
Der Junge zuckte die Achseln, latschte hinein und ließ die Tür offen.
Dann schlüpfte er wieder in seinen Schlafsack und zog ihn sich über den Kopf. War wohl nur auf
der Durchreise und holte versäumten Schlaf nach. Rebus nahm an, dass der Junge nichts zu
verlieren hatte, wenn er einfach einen Fremden hereinließ. Er überließ ihn seinem Schlaf, und
nachdem er flüchtig nachgesehen hatte, ob niemand sonst unten war, ging er die steile Treppe
hinauf.
Die Bücher lagen immer noch wie durcheinander gepurzelte Dominosteine da, und der Inhalt der
Plastiktüte, die McCall ausgeschüttet hatte, war immer noch auf dem Boden verstreut. Rebus
schenkte dem keine Beachtung, sondern ging zum Schreibtisch, setzte sich hin und ging die Papiere
durch, die dort lagen. Er hatte den Lichtschalter neben der Tür von Charlies Zimmer gedrückt, und
jetzt schaltete er auch noch die Schreibtischlampe an. An den Wänden hingen erstaunlicherweise
keine Poster, Ansichtskarten oder Ähnliches. Es war nicht wie das typische Zimmer eines
Studenten. Es strahlte etwas Neutrales aus, und das war vermutlich genau das, was Charlie
beabsichtigte. Er wollte für seine Aussteigerfreunde nicht wie ein Student aussehen; und für
seine studentischen Freunde wollte er nicht wie ein Aussteiger aussehen. Er wollte sich immer
seiner jeweiligen Umgebung anpassen. Also, ein Chamäleon und nicht nur ein Tourist.
Rebus' Hauptinteresse galt dem Essay über das Magische, aber er sah auch den übrigen
Schreibtischinhalt gründlich durch, wo er schon einmal hier war. Nichts Außergewöhnliches.
Nichts, was darauf hindeutete, dass Charlie verunreinigte Drogen in Umlauf brachte. Also nahm
Rebus sich den Essay, schlug ihn auf und begann zu lesen.
Nell mochte die Bibliothek am liebsten, wenn es so ruhig war wie jetzt.
Während der Vorlesungszeit benutzten viele Studenten sie als Treffpunkt, als einen besseren
Jugendclub. Dann war es im Lesesaal auf dem ersten Stock sehr laut. Häufig wurden Bücher einfach
liegen gelassen, falsch zurückgestellt oder verschwanden ganz. Das war alles sehr frustrierend.
Doch während der Sommermonate kamen nur die eifrigsten Studenten in die Bibliothek, diejenigen,
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