Das zweite Zeichen
sie genommen.«
»Du hast die Kamera genommen?«
»Hab ich doch gerade gesagt.«
»Okay.« Rebus' Stimme war neutral. Charlies nagendes schlechtes Gewissen könnte jeden Augenblick
in offenen Zorn umschlagen. »Wann hast du sie genommen?«
»Also, ich hab nicht gerade auf die Uhr geguckt.«
»Charles!« Vanderhydes Stimme war laut. Er stieß das Wort wie einen Peitschenhieb hervor. Charlie
zuckte zusammen. Voller kindlicher Furcht vor dieser imposanten Gestalt, seinem Onkel, dem
Zauberer, setzte er sich unwillkürlich gerade hin.
Rebus räusperte sich. Der Geschmack des Earl Grey machte seine Zunge pelzig. »War irgendwer im
Haus, als du zurückkamst?«
»Nein. Nun ja, abgesehen von Ronnie.«
»War er oben oder unten?«
»Er lag oben an der Treppe, wenn Sie es unbedingt wissen müssen. Lag da, als hätte er versucht
runterzukommen. Ich dachte, er wäre völlig hinüber. Aber irgendwie sah er seltsam aus. Ich meine,
wenn jemand schläft, dann ist doch trotzdem irgendeine Bewegung da. Aber Ronnie war...
starr. Seine Haut war kalt und feucht.«
»Und er lag oben an der Treppe?«
»Ja.«
»Was hast du dann gemacht?«
»Nun ja, ich wusste, dass er tot war. Und es kam mir vor, als ob ich träumte. Das hört sich blöde
an, aber es war so. Jetzt weiß ich, dass ich es einfach nicht wahrhaben wollte. Ich bin in
Ronnies Zimmer gegangen.«
»Stand das Glas mit den Spritzen dort?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern.«
»Macht nichts. Red weiter.«
»Ich wusste, wenn Tracy zurückkäme...«
»Ja?«
»Gott, das muss sich anhören, als war ich ein Monster.«
»Was denn?«
»Also, ich wusste, wenn sie zurückkäme und sähe, dass Ronnie tot ist, dann würde sie sich alles
von ihm nehmen, was sie finden könnte. Ich wusste, dass sie das tun würde, ich hatte es
einfach im Gefühl. Also nahm ich mir etwas, von dem er sicher gewollt hätte, dass ich es
bekomme.«
»Sozusagen als Erinnerungsstück?«, fragte Rebus süffisant.
»Nicht ganz«, gab Charlie zu. Rebus hatte plötzlich einen ernüchternden Gedanken: das läuft
alles viel zu glatt. »Es war das Einzige, was Ronnie besaß, das irgendwas wert war.«
Rebus nickte. Ja, das klang schon plausibler. Nicht dass Charlie das Geld unbedingt gebraucht
hätte; er konnte immer auf Onkel Matthew rechnen. Doch es war das Verbotene an dieser Tat, was
ihn anmachte.
Irgendwas, von dem Ronnie gewollt hätte, dass er es bekäme. Wohl kaum.
»Also hast du die Kamera geklaut?« Charlie nickte. »Und dann bist du gegangen?«
»Ich bin sofort nach Hause zurück. Irgendwer sagte, dass Tracy mich gesucht hätte. Sie war
ziemlich fertig gewesen. Also nahm ich an, dass sie das mit Ronnie bereits wusste.«
»Und sie war nicht mit der Kamera abgehauen. Stattdessen hatte sie nach dir gesucht.«
»Ja.« Charlie wirkte beinahe zerknirscht. Beinahe. Rebus fragte sich, wie das alles auf
Vanderhyde wirken mochte.
»Sagt dir der Name Hyde etwas?«
»Eine Figur bei Robert Louis Stevenson.«
»Abgesehen davon.«
Charlie zuckte die Achseln.
»Oder jemand namens Edward?«
»Eine Figur bei Robert Louis Stevenson.«
»Das kapier ich nicht.«
»Tut mir leid, war ein kleiner Scherz. Edward ist der Vorname von Hyde in Jekyll und Hyde. Nein, ich kenne niemanden, der Edward heißt.«
»Na schön. Soll ich dir mal was erzählen, Charlie?«
»Was denn?«
Rebus sah zu Vanderhyde, der ausdruckslos dasaß. »Ich glaube übrigens, dass dein Onkel bereits
weiß, was ich sagen will.«
Vanderhyde lächelte. »Kann schon sein. Korrigieren Sie mich, wenn ich Unrecht habe, Inspector
Rebus, aber Sie wollten wohl sagen, wenn der Leichnam des jungen Mannes von seinem Zimmer zur
Treppe bewegt wurde, dann muss man davon ausgehen, dass die Person, die den Leichnam bewegt hat,
im Haus war, als Charles kam.«
Charlie fiel die Kinnlade herunter. Rebus hatte diese Reaktion noch nie im wirklichen Leben
beobachtet.
»Ganz gut«, sagte er. »Ich würde sagen, du hast Glück gehabt, Charlie. Ich würde sagen, dass
jemand dabei war, die Leiche die Treppe hinunterzuschaffen, als er dich kommen hörte. Dann hat er
sich in einem der anderen Räume versteckt, vielleicht sogar in diesem stinkenden Badezimmer, bis
du wieder fort warst. Derjenige war die ganze Zeit mit dir im Haus.«
Charlie schluckte. Dann klappte er den Mund zu. Dann ließ er den Kopf nach vorne fallen und fing
an zu weinen. Nicht ganz leise, sondern so, dass sein Onkel es mitbekam. Der lächelte und nickte
Rebus zufrieden zu.
Rebus aß den letzten Bissen
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