Das zweite Zeichen
Schokolade. Sie hatte antiseptisch geschmeckt, genauso wie der Flur
draußen roch, die Krankensäle selbst und dieser Warteraum, wo sich besorgte Gesichter in alten
bunten Zeitungsbeilagen vergruben und versuchten, länger als ein bis zwei Sekunden ein
scheinbares Interesse aufrechtzuerhalten. Die Tür ging auf und Holmes kam herein. Er wirkte
erschöpft und besorgt. Er hatte eine vierzigminütige Autofahrt hinter sich, während der er
genügend Zeit gehabt hatte, sich das Schlimmste auszumalen, und das Ergebnis stand ihm im Gesicht
geschrieben. Rebus wusste, dass eine rasche Behandlung vonnöten war.
»Es geht ihr gut. Sie können zu ihr, wann immer Sie wollen. Sie behalten sie eigentlich ohne
besonderen Grund über Nacht hier. Sie hat eine gebrochene Nase.«
»Eine gebrochene Nase?«
»Das ist alles. Keine Gehirnerschütterung, keine Sehstörungen. Bloß eine gebrochene Nase, der
Fluch vieler Möchtegernboxer.«
Einen Augenblick lang fürchtete Rebus, Holmes würde an seiner lockeren Darstellung Anstoß nehmen.
Doch dann machte sich bei dem jüngeren Mann Erleichterung bemerkbar, und er lächelte. Seine
Schultern entspannten sich und sein Kopf fiel ein wenig nach vorn, heilfroh, dass seine
schlimmsten Befürchtungen doch nicht eingetreten waren.
»Also«, sagte Rebus, »Möchten Sie sie sehen?«
»Ja.«
»Kommen Sie, ich bring sie hin.« Er legte Holmes eine Hand auf die Schulter und bugsierte ihn
wieder zur Tür hinaus.
»Aber woher wussten Sie das denn?«, fragte Holmes, während sie den Flur entlanggingen.
»Was?«
»Dass es Nell war? Das mit Nell und mir?«
»Also, Sie sind doch Detective, Brian. Denken Sie mal darüber nach.«
Rebus konnte förmlich sehen, wie Holmes sich das Hirn zermarterte.
Er hoffte, dass dieser Prozess eine therapeutische Wirkung haben würde.
Nach einer ganzen Weile machte Holmes plötzlich den Mund auf.
»Nell hat keine Familie, also hat sie nach mir gefragt.«
»Nun ja, sie hat schriftlich nach Ihnen gefragt. Wegen der gebrochenen Nase kann man nur
schwer verstehen, was sie sagt.«
Holmes nickte matt. »Aber man konnte mich nicht finden, also hat man Sie gefragt, ob Sie wüssten,
wo ich wäre.«
»Das ist ziemlich nah dran. Gut gemacht. Wie war's übrigens in Fife? Ich komm nur noch einmal im
Jahr dorthin.« Am 28. April, dachte er bei sich.
»Fife? Das war ganz okay, ich musste allerdings vor der Festnahme weg. Das war schade. Ich
fürchte, ich hab das Team, bei dem ich mitmachen sollte, nicht gerade beeindruckt.«
»Wer hat es geleitet?«
»Eine junger DS namens Hendry.«
Rebus nickte. »Den kenne ich. Es überrascht mich, dass sie ihn nicht kennen oder zumindest mal
von ihm gehört haben.«
Holmes zuckte die Achseln. »Ich hoffe bloß, dass sie die Dreckskerle erwischen.«
Rebus war vor der Tür eines Krankensaals stehen geblieben.
»Ist es hier?«, fragte Holmes. Rebus nickte.
»Wollen Sie, dass ich mitkomme?«
Holmes starrte seinen Vorgesetzten beinah dankbar an, dann schüttelte er den Kopf.
»Nein, es geht schon. Wenn sie schläft, werd ich nicht lange bleiben. Nur noch eine Frage.«
»Ja?«
»Wer hat das getan?«
Wer das getan hatte das war am schwierigsten zu begreifen. Während er den Flur entlangging, sah
Rebus Nells geschwollenes Gesicht vor sich, wie sie sich abmühte zu sprechen, es ihr aber nicht
gelang. Sie hatte mit einer Handbewegung um Papier gebeten. Er hatte sein Notizbuch aus der
Tasche gezogen und ihr einen Stift gegeben. Dann hatte sie eine Zeit lang wie wild geschrieben.
Er blieb stehen, holte das Notizbuch hervor und las es zum vierten oder fünften Mal an diesem
Abend.
»Ich hatte gerade in der Bibliothek zu tun, als eine Frau versuchte, sich an der Aufsicht vorbei
ins Gebäude zu drängen. Fragen Sie den Mann, wenn Sie das überprüfen wollen. Dann hat mir diese
Frau ihren Kopf ins Gesicht geknallt. Ich hatte nur versucht zu helfen, sie zu beruhigen. Sie
muss geglaubt haben, dass ich ihr was wollte. Stimmt aber nicht. Ich wollte nur helfen. Sie war
die Frau von diesem Foto, der Nacktaufnahme, die Brian gestern Abend im Pub in seiner Aktenmappe
hatte. Sie waren doch auch da, im gleichen Pub wie wir? Nicht einfach, sich nicht zu sehen
schließlich war das Lokal leer. Wo ist Brian? Auf der Jagd nach weiteren schlüpfrigen Bildern für
Sie, Inspector?«
Rebus lächelte wieder, wie er auch in dem Moment gelächelt hatte.
Sie hatte Power, diese Frau. Irgendwie gefiel sie ihm, trotz des verpflasterten Gesichts und der
beiden
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