Dass du ewig denkst an mich
ganz.
Carpenter wartete eine Weile und fragte dann vorsichtig:
»Was ist denn, Laurie?«
»Als ich gestern abend nach Hause kam, fragte mich Sarah,
ob ich von Gregg Bennett gehört hätte.«
»Gregg Bennett?«
»Mit dem bin ich eine Weile ausgegangen. Meine Eltern und
Sarah haben ihn sehr gemocht.«
»Mögen Sie ihn?«
»Ich habe ihn gemocht, bis…«
Wieder wartete er.
Ihre Augen weiteten sich. »Er wollte mich nicht loslassen.«
»Sie meinen, er hat sich Ihnen aufgedrängt?«
»Nein. Geküßt hat er mich. Das war schon in Ordnung. Ich
mochte das. Aber dann hat er meine Arme gepackt und
zugedrückt.«
»Und das hat Ihnen angst gemacht.«
»Ich wußte, was passieren würde.«
»Was hätte denn passieren sollen?«
Ihre Augen wurden glasig, als blickte sie in weite Ferne.
»Darüber wollen wir nicht reden.«
Zehn Minuten lang blieb sie stumm. Dann sagte sie
bedrückt: »Ich habe gleich gemerkt, daß Sarah mir nicht
geglaubt hat, daß ich neulich abends nicht ausgewesen bin. Sie
hat sich Sorgen gemacht.«
Sarah hatte ihn deswegen angerufen. »Vielleicht waren Sie
aus«, meinte Dr. Carpenter. »Es wäre gut für Sie, mit Freunden
wegzugehen.«
»Nein. Ich bin im Augenblick überhaupt nicht an Jungs
interessiert. Ich habe viel zuviel zu tun.«
»Irgendwelche Träume?«
»Der Traum mit dem Messer.«
Als er sie vor zwei Wochen darüber befragt hatte, hatte sie
einen hysterischen Anfall bekommen. Heute klang ihre Stimme
beinahe gleichgültig. »Ich werde mich daran gewöhnen
müssen. Der Traum wird immer wiederkommen, bis das
Messer mich einholt. Das wird es nämlich, wissen Sie?«
»Laurie, in der Therapie bezeichnen wir es als Abreaktion,
wenn wir eine Erinnerung, die uns emotionell belastet,
ausleben, sie sozusagen vorspielen. Ich möchte, daß Sie sich
jetzt abreagieren. Zeigen Sie mir, was Sie in dem Traum sehen.
Ich denke, Sie haben Angst davor, sich schlafen zu legen, weil
Sie befürchten, daß der Traum wiederkommt. Aber ohne Schlaf
hält man es nicht aus. Sie brauchen nicht zu reden. Zeigen Sie
mir nur, was in dem Traum passiert.«
Laurie stand langsam auf und hob dann die Hand. Ihr Mund
verzog sich zu einem listigen, schmallippigen Lächeln. Sie
ging langsam, aber zielstrebig um den Tisch herum auf ihn zu,
und ihre Hand zuckte dabei auf und ab, schwang ein
imaginäres Messer. Unmittelbar bevor sie ihn erreichte, blieb
sie stehen, und ihre Haltung veränderte sich. Sie stand wie
angewurzelt da, starrte ihn an, und ihre Hand versuchte etwas
aus ihrem Gesicht und ihrem Haar zu wischen. Sie blickte an
sich hinunter und sprang erschreckt zurück.
Sie brach auf dem Boden zusammen, schützte ihr Gesicht
mit den Händen, preßte sich zitternd an die Wand und gab
klagende Laute wie ein verwundetes Tier von sich.
Zehn Minuten verstrichen, bis Laurie sich beruhigte, die
Hände vom Gesicht nahm und sich langsam aufrichtete.
»Das ist der Messertraum«, sagte sie.
»Kommen Sie in dem Traum vor, Laurie?«
»Ja.«
»Wer sind Sie - diejenige, die das Messer hat, oder diejenige,
die Angst hat?«
»Alle. Und am Ende sterben wir alle miteinander.«
»Laurie, ich möchte gern mit einem mir bekannten
Psychiater sprechen, der große Erfahrung mit Menschen hat,
die ein Kindheitstrauma erlitten haben. Würden Sie mir eine
Freigabeerklärung unterschreiben, daß ich Ihren Fall mit ihm
besprechen darf?«
»Wenn Sie wollen. Was kann das mir schon ausmachen?«
17
Um halb acht am Montag morgen eilte Dr. Justin Donnelly aus
seinem Apartment am Central Park South die Fifth Avenue
hinauf zum Lehman Hospital an der Sechsundneunzigsten
Straße. Er befand sich in einem ständigen Wettbewerb mit sich
selbst, um die drei Kilometer jeden Tag ein oder zwei Minuten
schneller zurückzulegen. Aber wenn er nicht regelrecht joggte,
schaffte er es einfach nicht, seinen Rekord zu verbessern, der
zur Zeit zwanzig Minuten betrug.
Er war ein großer, kräftig gebauter Mann, der aussah, als
müßte er Cowboystiefel und einen breitkrempigen Hut tragen,
was gar nicht so abwegig war. Donnelly war auf einer
Schafzuchtfarm in Australien aufgewachsen. Sein lockiges
schwarzes Haar war immer etwas zerzaust. Der schwarze,
buschige Schnurrbart betonte beim Lächeln seine kräftigen
weißen Zähne. Seine tiefblauen Augen waren von dunklen
Wimpern und Augenbrauen eingerahmt, um die die Frauen ihn
beneideten. Er hatte sich ziemlich früh in seiner Karriere als
Psychiater auf multiple Persönlichkeiten spezialisiert, und
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