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Dass du ewig denkst an mich

Titel: Dass du ewig denkst an mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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Zustand grotesk. Die frivole Euphorie, die
sich nach den Examina einzustellen pflegte, war vorbei, und in
den Vorlesungsräumen zog wieder der Alltag ein.
    Laurie strebte mit schnellen Schritten auf Professor Grants
Büro zu, die Hände in den Taschen ihrer Skijacke, die sie über
Jeans und Pullover trug, geballt. Ihr blondes Haar hatte sie zu
einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Zunächst hatte sie
Lidschatten und Lippenstift aufgelegt, sie dann aber wieder
abgewischt.
    Mach dir doch nichts vor. Du bist häßlich.
Diese lauten Gedanken stellten sich jetzt immer häufiger ein.
Laurie beschleunigte ihre Schritte, als könnte sie den Stimmen
davonrennen. Laurie, alles ist deine Schuld. Das, was dir als
Kind zugestoßen ist, ist deine Schuld.
Laurie hatte die Hoffnung, bei der ersten Prüfung über
viktorianische Schriftstellerinnen nicht zu schlecht
abgeschnitten zu haben. Bis zu diesem Semester hatte sie
immer gute Noten bekommen, aber jetzt ging es wie auf einer
Berg-und-Tal-Bahn zu. Manchmal bekam sie eine Eins oder
eine Zwei plus, und dann war ihr der Stoff wieder so fremd,
daß sie bei der Vorlesung wohl überhaupt nicht aufgepaßt
hatte. Später fand sie dann Notizen, an die sie sich überhaupt
nicht erinnerte.
Dann sah sie ihn. Gregg. Er überquerte gerade die Zufahrt
zwischen zwei Studentenhäusern. Er hatte sie letzte Woche
nach seiner Ankunft aus England angerufen. Sie hatte ihn
angebrüllt, er solle sie in Frieden lassen, und hatte den Hörer
hingeknallt.
Bis jetzt hatte er sie noch nicht entdeckt. Sie fing zu rennen
an.
Glücklicherweise war der Korridor leer. Sie preßte das
Gesicht einen Augenblick lang gegen die Mauer und genoß die
beruhigende Kühle.
Feigling.
Ich bin kein Feigling, dachte sie trotzig, drückte die
Schultern zurück und zwang sich zu einem lockeren Lächeln,
als sie an die halbgeöffnete Tür von Allan Grants Büro klopfte.
Sein freundliches »Kommen Sie doch herein, Laurie« tat ihr
gut. Er war immer freundlich zu ihr.
Grant deutete auf seinen Besucherstuhl. »Setzen Sie sich,
Laurie.« Er trug einen dunkelblauen Sweater über einem
weißen Rollkragenpullover. Er sah fast wie ein Priester aus,
dachte sie.
Er hielt ihre letzte Arbeit, die sich mit Emily Dickinson
befaßte, in der Hand. »Hat Ihnen wohl nicht gefallen?« fragte
sie besorgt.
»Ganz im Gegenteil: Ich fand es großartig. Ich verstehe nur
nicht ganz, warum Sie Ihre Meinung über die alte Emily
geändert haben.«
Es gefiel ihm also. Laurie lächelte erleichtert. Aber was
meinte er mit ›Meinung ändern‹?
»Im letzten Semester haben Sie Emily Dickinsons
Entscheidung unterstützt, ein Einsiedlerleben zu führen, und
geschrieben, daß ihr Genie sich nur dadurch in vollem Maße
entwickeln konnte, daß sie sich der Menge entzog. Jetzt stellen
Sie die These auf, daß sie eine von Furcht gequälte
Neurotikerin war und daß ihre Dichtkunst zu noch viel
größeren Höhen aufgestiegen wäre, wenn sie ihre Emotionen
nicht unterdrückt hätte. Am Ende schreiben Sie: ›Eine lustvolle
Affäre mit ihrem Idol und Mentor Charles Wadsworth hätte ihr
ganz sicher gutgetan.‹«
Grant lächelte. »Ich habe das manchmal auch schon gedacht.
Aber was hat Sie eigentlich dazu veranlaßt, Ihre Meinung zu
ändern?«
Ja, was? Laurie fand eine Antwort. »Vielleicht tickt mein
Verstand genau wie der Ihre. Vielleicht habe ich mir überlegt,
was passiert wäre, wenn sie ihre Gefühle hätte ausleben
können, statt vor ihnen Angst zu haben.«
Grant nickte. »Okay. Diese zwei Sätze am Rand… Haben Sie
die geschrieben?«
Es sah ganz und gar nicht wie ihre Handschrift aus, aber auf
dem blauen Aktendeckel stand ihr Name, und so nickte sie.
Professor Grant wirkte verändert. Sein Gesichtsausdruck war
nachdenklich, ja beunruhigend geworden. Gab er sich nur
Mühe, nett zu ihr zu sein? Vielleicht war die Arbeit dennoch
lausig.
Sie stand auf. »Ich… ich muß jetzt gehen. War noch etwas?«
Allan Grant sah Laurie bedrückt nach. Um ganz sicher zu
sein, war es noch zu früh, aber die Arbeit, die er in der Hand
hielt, war der erste greifbare Hinweis auf die geheimnisvolle
Verfasserin der Briefe, die mit ›Leona‹ unterzeichnet waren.
Die Arbeit hatte von der Diktion her etwas Sinnliches an
sich, ganz anders, als Laurie sonst zu schreiben pflegte, aber
den Briefen ähnlich. Er glaubte sogar, einige besonders
ungewöhnliche Wendungen zu erkennen. Das war noch kein
Beweis, aber immerhin ein

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