Dass du ewig denkst an mich
lassen. Er ging in sein Arbeitszimmer und schloß die Tür.
Ein paar Augenblicke später hörte sie leise Musik und wußte,
daß er wieder einmal Lees Spieldose herausgeholt hatte. Sie
schlich auf Zehenspitzen zur Tür und hörte Fistelstimmen
singen: »In der ganzen Stadt herum… Jungs und Mädels
zusammen…«
24
Es war sehr schwer, Sarah nicht merken zu lassen, wie groß
ihre Angst war. Laurie erzählte es jetzt Sarah und Dr.
Carpenter nicht mehr, wenn sie von dem Messer träumte. Es
nützte nichts, darüber zu reden. Niemand, nicht einmal Sarah,
konnte verstehen, daß das Messer näher und näher kam.
Dr. Carpenter wollte ihr helfen, aber sie mußte ganz
vorsichtig sein. Manchmal verging die Stunde mit ihm so
schnell, und Laurie wußte dann, daß sie ihm Dinge erzählt
hatte, an die sie sich nachher gar nicht mehr erinnerte.
Sie war immer so müde. Obwohl sie fast jeden Abend in
ihrem Zimmer blieb und lernte, hatte sie immer große
Schwierigkeiten, ihre Aufgaben zu erledigen. Manchmal
passierte es, daß sie sie fertig auf ihrem Schreibtisch fand und
sich gar nicht daran erinnerte, daß sie sie gemacht hatte.
Und dann gab es da so viele laute Gedanken, die in ihrem
Kopf dröhnten, wie Leute, die in einer Echokammer schrieen.
Eine der Stimmen sagte ihr, sie sei dumm und eine Versagerin
und würde allen nur Ärger machen, und sie solle den Mund
halten, wenn Dr. Carpenter dabei sei. Und manchmal war da
ein kleines Mädchen, das in Lauries Bewußtsein ständig
weinte. Manchmal weinte es ganz leise, manchmal schluchzte
es jämmerlich. Und eine andere Stimme, viel tiefer und
irgendwie anzüglich, redete wie ein Pornostar.
Die Wochenenden waren besonders schlimm. Das Haus war
so groß, so still. Sie war froh, daß Sarah es einem
Immobilienmakler zum Verkauf angeboten hatte.
Das einzige Mal, wo Laurie sich wie sie selbst fühlte, war,
wenn sie und Sarah im Club Golf spielten und mit Freunden zu
Mittag oder zu Abend aßen. Dann dachte sie immer daran, wie
sie mit Gregg Golf spielte. Er fehlte ihr so sehr, daß es richtig
weh tat, aber sie hatte jetzt solche Angst vor ihm, und die
Furcht verdrängte ihre ganze Liebe. Der Gedanke daran, daß er
im Januar nach Clinton zurückkommen würde, bedrückte sie.
25
Schon in dem Gespräch mit Dr. Carpenter hatte Justin
Donnelly den Eindruck gewonnen, daß Sarah Kenyon eine
ungewöhnlich starke junge Frau war. Er war aber trotzdem
nicht auf den Eindruck vorbereitet gewesen, den sie beim
persönlichen Kennenlernen auf ihn gemacht hatte. An jenem
ersten Abend war sie ihm in seinem Büro gegenübergesessen,
selbstbewußt und schön, und nur der Schmerz, den man in
ihren Augen lesen konnte, ließen die Angst und das Leid
erkennen.
Beeindruckt hatte ihn auch, daß sie vor dem Besuch bei ihm
Informationen über multiple Persönlichkeiten eingeholt hatte.
Als er Sarah dann in Nicola’s angetroffen hatte, schien sie
erfreut, ihn zu sehen, und so war es ganz einfach und natürlich,
daß er sich zu ihr setzte, um den letzten kleinen Tisch für das
junge Paar freizumachen, das nach ihm das Lokal betreten
hatte.
Sarah war es, die die Unterhaltung führte. Sie hatte ihm mit
einem Lächeln den Korb mit den Brötchen gereicht.
»Ich kann mir vorstellen, Sie haben Ihr Mittagessen genauso
im Stehen eingenommen wie ich«, meinte sie. »Ich fange
gerade an, einen Mordfall zu bearbeiten, und habe den ganzen
Tag mit Zeugen gesprochen.«
Sie erzählte von ihrer Arbeit im Büro des Staatsanwalts und
lenkte das Gespräch dann geschickt auf ihn. Sie wußte, daß er
Australier war. Justin erzählte ihr von seiner Familie und
seinen Jugendjahren auf einer Schaffarm. »Mein Urgroßvater
väterlicherseits kam in Ketten aus England. Natürlich wurde
das einige Generationen lang nicht erwähnt. Jetzt ist man stolz
darauf, einen Vorfahren zu haben, der in der Strafkolonie Gast
der Krone war. Meine Großmutter mütterlicherseits ist in
England geboren, und ihre Familie ist nach Australien
ausgewandert, als sie drei Monate alt war. Omi hat uns ihr
ganzes Leben lang vorgejammert, wie sehr England ihr doch
fehlte. Sie war in achtzig Jahren zweimal dort. So können
Aussies auch sein.«
Erst als sie an ihrem Cappuccino nippten, wandte sich das
Gespräch seiner Entscheidung zu, sich auf die Behandlung von
Patienten zu spezialisieren, die an Persönlichkeitsspaltung
litten.
Von jenem Abend an sprach Justin wenigstens einmal die
Woche mit Dr.
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