Date mit meinen Ichs

zu erhöhen. Jetzt sind wir beim Charakter. Für den einen wäre es undenkbar, so zu handeln. Das Wertesystem seines Kritischen Eltern-Ichs würde dies nie zulassen. Der andere hingegen besitzt ein anderes Wertesystem und hätte nicht die geringsten Bedenken, sein Vorhaben zu wiederholen.
    Unser Charakter ist letzten Endes das Ergebnis des Zusammenspiels von Werten, Logik und Lust. Wer das Modell der Transaktionsanalyse versteht und beherrscht, kann an seinem Charakter arbeiten, sofern er dies anstrebt.
    Ein Fallbeispiel aus meiner praktischen Arbeit zur Verdeutlichung: Ein Kunde, ehemals Personalchef eines Unternehmens, stand vor der schwierigen Aufgabe, Kollegen entlassen zu müssen. Er führte diese Aufgabe korrekt, aber ohne Anteilnahme aus (Erwachsenen-Ich und Kritisches Eltern-Ich sehr ausgeprägt, Stützendes Eltern-Ich geringe Ausprägung). Als er schließlich selbst den Job verlor und die psychische Belastung der Situation am eigenen Leib verspürte, reflektierte er sein Verhalten als Personalchef und gab dem Stützenden Eltern-Ich mehr Raum. Dass sich dies auch auf seine Familie und das weitere Umfeld positiv auswirkte, liegt auf der Hand. Er hat den Wert der Fürsorge neu definiert, womit die Dialoge seiner Ich-Zustände einen anderen Charakter bekommen haben.
    Schauen wir uns ein weiteres Beispiel an, in dem es um Wahrheit oder Lüge geht. Aus dem Wertesystem des Kritischen Eltern-Ichs her betrachtet, hat eine Person einen schlechten Charakter, wenn sie lügt. Nun kann dies aber aus Sicht des Stützenden Eltern-Ichs ganz anders gedeutet werden. Nämlich dann, wenn die Lüge als Form der Höflichkeit genutzt wird. Man will schließlich keinem wehtun. Durch den Charakter, also aus dem Zusammenspiel der einzelnen Ich-Zustände, wird jetzt entschieden, ob man lügt oder nicht. So sind die meisten Konflikte in unserem Leben in erster Linie Wertekonflikte.

LIVE-ERLEBNIS
    Ich durfte an einem sehr bewegenden Erlebnis im Zusammenhang mit der Transaktionsanalyse während eines Seminars in Frankfurt teilhaben. Die Chance ist groß, dass Sie die Geschichte für trivial bis verrückt halten, aber betrachten Sie diese bitte aus der Sicht Ihres Erwachsenen-Ichs.
    Ein Teilnehmer, der im Verlauf des Seminars eher zurückhaltend wirkte, ging auf die Bühne und bat um Aufmerksamkeit. Da die Gruppe von seinem Verhalten sehr überrascht war, kehrte augenblicklich Stille ein. Der Teilnehmer ließ plötzlich einer Blähung freien Lauf, wonach ihm nach wenigen Sekunden Tränen in die Augen schossen. Mit weinender und zugleich glücklicher Stimme sprach er zu der Gruppe: „Ich habe mich überwunden, etwas zu tun, was mir mein Kritisches Eltern-Ich absolut verbietet. Heute habe ich mich getraut, meinem Kritischen Eltern-Ich die Stirne zu bieten. Haltet mich ruhig für verrückt, doch ihr könnt euch nicht vorstellen, wie glücklich ich gerade bin.“ Damit hatte er den Grundstein gelegt, mehr Bewegungsfreiheit in sein Leben zu bringen. Die Teilnehmer waren sehr berührt und applaudierten. Sie verstanden seine Beweggründe.
    Für jeden von uns ist es ein sehr großes Bedürfnis, frei zu sein. Frei zu sein würde in diesem Zusammenhang bedeuten, dass wir selbst bestimmen, welchen Ich-Zustand wir gerade einsetzen wollen. Die Sprüche: „Denken Sie oder werden Sie gedacht?“ oder „Sind Sie der Schwanz vom Pferd oder sitzen Sie auf dem Sattel?“ bringen hier die Sache auf den Punkt.

SPANNENDES RÄTSEL
    „Man wirkt nicht durch das, was man meint, möchte oder beabsichtigt. Man wirkt durch das, was man wirklich kann, tut und ist.“
Georg Christoph Lichtenberg
    Ich möchte Ihnen noch ein kleines Rätsel aufgeben, das unterstreicht, wie unmerklich das Kritische Eltern-Ich Einfluss auf unser Denken und Handeln nimmt. Ich stieß auf diese Geschichte in einem Hörbuch von Vera F. Birkenbihl. Meine Bitte: Lesen Sie die Geschichte aufmerksam in aller Ruhe. Blättern Sie erst um, wenn sie glauben, die Antwort zu wissen!
    Ein Vater spielt mit seinem Sohn auf der Straße Fußball. Plötzlich kommt ein Auto und erfasst das Kind. Das Kind wird zu Boden geschleudert und dabei schwer verletzt. Der Vater nimmt sein blutüberströmtes Kind in die Arme und rennt in das 500 Meter nahe gelegene Krankenhaus. Eine Person, die den Unfall beobachtet, ruft das Krankenhaus an und teilt mit, dass ein Mann mit seinem Sohn, der gerade vom Auto angefahren wurde, auf dem Weg ins Krankenhaus ist. Eine Krankenschwester empfängt den völlig erschöpften