Daughter of Smoke and Bone
Nervenenden zurück, ihr wurde kalt, sie starrte ihn an – die schwere Langsamkeit, der ausdruckslose Blick – und fragte sich, ob sie sich alles zwischen ihnen nur eingebildet hatte.
»Hi«, sagte sie leise, stockend, jedoch mit einem kurzen Hoffnungsschimmer. Vielleicht war ihr Eindruck ja ganz falsch, vielleicht würde sie dieselbe Sternenlichtexplosion, die sein Anblick in ihr ausgelöst hatte, doch noch in ihm entdecken. Sie hatte doch geglaubt, endlich gefunden zu haben, was sie sich schon immer gewünscht hatte: jemand, der ebenso für sie da war wie sie für ihn, jemand, dessen Blut und dessen Schmetterlinge mit den ihren sangen, in Harmonie, Ton für Ton.
Doch Akiva antwortete nicht. Er nickte nur kurz.
»Du bist unverletzt«, sagte sie, aber ihrer Stimme war keine Freude anzuhören.
»Du hast gewartet«, erwiderte er.
»Das … das hab ich dir doch gesagt.«
»Solange du kannst.«
War er verärgert, weil sie es nicht versprochen hatte? Karou wollte ihm erklären, dass sie damals nicht gewusst hatte, was sie jetzt wusste – dass »solange ich kann« eine sehr lange Zeit war und dass sie das Gefühl hatte, schon ihr Leben lang auf ihn gewartet zu haben. Aber sein verschlossenes Gesicht ließ sie verstummen.
Er streckte die Hand aus. »Hier«, sagte er und hielt ihr das Band mit dem Wunschknochen hin.
Sie nahm ihn entgegen und schaffte sogar ein geflüstertes »Danke«, als sie das Band über den Kopf zog. Der Wunschknochen ließ sich auf seinem angestammten Platz nieder, direkt unter ihrer Kehle.
»Diese hier hab ich dir auch noch mitgebracht«, fuhr Akiva fort und legte das Etui mit ihren Mondsichelmessern auf den Tisch. »Du wirst sie sicher brauchen.«
Das klang hart, beinahe wie eine Drohung. Karou stand da und versuchte, ihre Tränen wegzublinzeln.
»Möchtest du immer noch wissen, wer du bist?«, fragte Akiva, jedoch ohne sie anzuschauen – er sah durch sie hindurch, ins unbestimmte Nichts.
»Natürlich möchte ich das«, antwortete sie, obwohl es nicht das war, was ihr durch den Kopf ging. Denn in diesem Moment wollte sie nur eines: die Zeit zurückdrehen, wieder in Prag sein. Damals hatte sie mit einer Sicherheit, die gleichzeitig erregend und beruhigend gewesen war, gewusst, dass Akiva aus einer dunklen Nacht der Seele zurückkehrte –
ihretwegen
. Jetzt war er wieder innerlich tot, und obwohl sie ihren Wunschknochen zurückbekommen hatte und nun endlich die Antwort auf die Frage in ihrem Innersten erfahren würde, fühlte auch sie sich plötzlich wie tot.
»Was ist passiert?«, fragte sie. »Mit den anderen, meine ich.«
Aber er ignorierte die Frage. »Können wir uns irgendwo zurückziehen?«
»Zurückziehen?«
Akiva deutete auf die Menschenmenge, die den Platz bevölkerte: Verkäufer, die Orangen-Pyramiden auf ihren Ständen aufbauten, Touristen mit Kameras und Einkäufen. »Du willst bestimmt alleine sein«, sagte er.
»Was … was hast du mir denn zu sagen, dass du denkst, ich will alleine sein, wenn ich es höre?«
»Ich werde dir gar nichts sagen.« Bisher hatte Akiva durch sie hindurchgesehen, unfokussiert, so dass sie sich schon gefühlt hatte wie eine Art Nebel, aber jetzt fixierte er sie plötzlich. Der Glanz seiner Augen war wie Sonnenlicht in einem Topas, und ehe er den Blick wieder abwandte, sah sie das Aufblitzen einer Sehnsucht, die so tief war, dass es schmerzte. Ihr Herz vollführte einen Sprung.
»Wir werden den Wunschknochen zerbrechen«, sagte er.
***
Dann würde sie alles wissen, und sie würde ihn hassen. Akiva versuchte sich darauf vorzubereiten, wie sie ihn anschauen würde, wenn sie alles verstand. Ehe sie vorhin auf ihn aufmerksam geworden war, hatte er sie ein paar Sekunden vom Platz aus beobachtet und gesehen, wie ihr Gesicht sich bei seinem Anblick veränderte – die ängstliche, verlorene Spannung wich … einem Leuchten. Es war, als würde sie eine Strahlung zu ihm aussenden, die ihn überflutete und verbrannte.
In diesem Augenblick hatte alles gelegen, was er nicht verdiente und niemals haben konnte. Er wollte nichts anderes, als sie an sich drücken, seine Hände in ihren Haaren vergraben – die frisch gewaschen waren und ihr glatt wie fließendes Wasser über die Schultern fielen –, sich in ihrem Duft, ihrer Weichheit verlieren.
Plötzlich erinnerte er sich an eine Geschichte, die Madrigal ihm einmal erzählt hatte: die Geschichte vom Golem, dieser aus Lehm nach dem Bild des Menschen geformten Gestalt, die zum Leben
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