Daughter of Smoke and Bone
Madrigal an ihrer Seite gewesen. Sie hatte ihre Schwester in den Armen gehalten, die, blutigen Schaum vor den scharfen Hundezähnen, zuckte, um sich trat und schließlich ganz still dalag. Madrigal tat, was sie gelernt und schon viele Male getan hatte, wenn auch noch nie für jemanden, der ihr so nahestand.
Mit ruhigen Händen entzündete sie den Weihrauch im Turibulum, das laternengleich am Ende ihres Sammelstabs hing – des langen, gebogenen Stocks, den Chimärensoldaten auf den Rücken gebunden bei sich trugen –, ›und wartete, bis der Rauch Chiro einhüllte. Pfeile regneten auf sie herab, gefährlich nah, aber Madrigal ließ sich nicht beirren. Zwei Minuten, um ganz sicherzugehen, das war die Norm. Zwei Minuten, die sich unter dem dichten Pfeilhagel anfühlten wie zwei Stunden, aber Madrigal zog sich erst zurück, als sie fertig war. Womöglich war es die letzte Chance. Ein wilder Seraphim-Ausfall trieb sie von der Mauer Kalamets. Sie konnte Chiros Leiche mitschleppen oder das Sammeln vollenden und sie zurücklassen.
Chiros Körper zurückzulassen, während ihre Seele noch darin gefangen war, kam nicht in Frage.
Als Madrigal sich schließlich zurückzog, hatte sie die Seele ihrer Pflegeschwester bei sich, sicher in ihrem Turibulum – eine von vielen Seelen, die sie an diesem Tag noch einsammeln würde. Die Körper wurden der Fäulnis überlassen. Denn ein Körper war nur ein Körper, war Materie, ein Ding.
Zu Hause in Loramendi würde Brimstone bereits dabei sein, neue Körper zu machen.
***
Brimstone war ein Wiedererwecker.
Aber er hauchte nicht etwa zerstörten Körpern neues Leben ein, nein, er
erschuf
Körper. Das war die Magie, die er in der Kathedrale unter der Erde ausübte. Aus spärlichsten Überresten – Zähnen – zauberte Brimstone neue Körper, die er als Hülle für die Seelen erschlagener Krieger benutzen konnte. Auf diese Weise hielt die Chimärenarmee Jahr um Jahr der Übermacht der Engel stand.
Ohne Brimstone und ohne Zähne würden die Chimären untergehen. Das stand völlig außer Frage. Sie würden fallen.
***
»Das ist für Chiro«, hatte Madrigal gesagt und Brimstone eine Zahnkette ausgehändigt. Mensch, Fledermaus, Karakal und Schakal. Stundenlang hatte sie geschuftet und seit ihrer Rückkehr aus Kalamet weder geschlafen noch gegessen. Ihre Augenlider waren bleischwer. Sie hatte jeden Schakalzahn in der Dose herausgenommen und ihm gelauscht, bis sie sicher war, dass sie wirklich den besten – saubersten, glattesten, schärfsten, stärksten – gefunden hatte. Das Gleiche mit den anderen Zähnen, und den mit ihnen aufgefädelten Schmucksteinen: Jade für Anmut, Diamanten für Kraft und Schönheit. Für gewöhnlich gestand man Diamanten einem gewöhnlichen Soldaten nicht zu, das war ein Luxus, aber Madrigal hatte die Steine trotzdem eingesetzt, und Brimstone hatte es zugelassen.
Er musste die Kette einen Moment in Händen halten, um beurteilen zu können, ob sie korrekt war. Genau wie sie es von ihm gelernt hatte, waren die Zähne und Steine in einer bestimmten Anordnung für das Beschwören eines Körpers aufgereiht. In einer anderen Konfiguration würde der Körper sich entsprechend anders manifestieren – zum Beispiel der Kopf einer Fledermaus anstelle des Schakals, Menschenbeine statt denen eines Karakals. Dabei wurde zum Teil ein Rezept befolgt, zum Teil die eigene Intuition, und Madrigal war sicher, dass diese Kette perfekt war.
Wiedererstanden würde Chiro fast genauso aussehen wie in ihrem ursprünglichen Körper.
»Gut gemacht«, sagte Brimstone, und dann tat er etwas sehr Ungewöhnliches: Er berührte Madrigal. Für einen kurzen Moment ließ er seine große Hand in ihrem Nacken ruhen, dann wandte er sich ab.
Vor Stolz errötete sie; Issa, die sie beobachtete, sah es und lächelte. Ein »Gut gemacht« von Brimstone war schon selten genug, aber eine Berührung war etwas ganz Besonderes. Alles, was zwischen Brimstone und Madrigal vorging, war außergewöhnlich und von Madrigals Seite hart erkämpft.
Brimstone war ein Einsiedler, den man selten außerhalb seiner Domäne in Loramendis Westturm sah. Wenn er sich doch einmal zeigte, geschah es zur Linken des Kriegsherrn, und er flößte die gleiche Ehrfurcht ein wie dieser, wenn auch von einer anderen Art. Alle beide waren lebende Legenden, beinahe Götter. Schließlich hatten sie den Aufstand in Astrae organisiert und ein Blutbad unter den Engeln angerichtet. Jahrelang hatten die Überlebenden sich von dem
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