Daughter of Smoke and Bone
der fünften Klasse hatte eine Freundin namens Belinda Karou hineingehen sehen und daraus geschlossen, dass sie obdachlos war. Das Gerücht hatte sich verbreitet, Eltern und Lehrer hörten davon, und Karou, die ihre gefälschte Großmutter Esther nicht so schnell auftreiben konnte, war von der Jugendschutzbehörde in Gewahrsam genommen worden. Man hatte sie in ein Heim gesteckt, aus dem sie gleich in der ersten Nacht geflohen war – auf Nimmerwiedersehen. Danach: eine neue Schule in Hongkong und noch mehr Vorsicht, dass sie niemand durch das Portal gehen sah. Das hieß noch mehr Lügen und Geheimnistuerei und somit erst recht keine richtigen Freunde.
Inzwischen musste sie nicht mehr befürchten, vom Jugendamt aufgegriffen zu werden, aber Freundschaften zu erhalten war immer noch schwierig. Zuzana war die beste Freundin, die sie je gehabt hatte, und Karou wollte sie nicht verlieren.
Sie seufzte. »Tut mir echt leid, dass ich diese Woche so wenig Zeit hatte. Ich hatte total viel um die Ohren. Bei all der Arbeit …«
»Arbeit? Seit wann
arbeitest
du denn?«
»Schon immer. Was denkst du, wovon ich lebe? Von Regenwasser und Tagträumen?«
Sie hoffte, ihrer Freundin damit wenigstens ein Lächeln abzuringen, aber Zuzana sah sie nur mit gerunzelter Stirn an. »Woher soll ich wissen, wovon du lebst, Karou? Wir sind schon so lange Freundinnen, und nie erzählst du mir von deinem Job, deiner Familie … oder sonst irgendwas.«
Karou ignorierte den Teil mit »Familie oder sonst irgendwas« und erwiderte: »Na ja, es ist nicht wirklich ein
Job
. Ich erledige nur Aufträge für jemanden. Ich hole Sachen für ihn ab und treffe mich mit Kunden.«
»Wie ein Drogendealer?«
»Ach, komm schon, Zuzu, so ein Quatsch. Er ist ein … ein Sammler, denke ich.«
»Ach ja? Und was sammelt er?«
»Irgendwelches Zeug. Das interessiert doch keinen.«
»Doch, mich interessiert es. Das Ganze klingt einfach seltsam, Karou. Du bist doch nicht in irgendwelche komischen Machenschaften verwickelt, oder?«
O nein
, dachte Karou.
Ganz und gar nicht.
Sie atmete tief durch und sagte: »Ich kann wirklich nicht darüber reden. Das ist seine Sache, nicht meine.«
»Na gut. Scheiß drauf.« Zuzana drehte sich auf dem Plateauabsatz um und lief hinaus in den Regen.
»Warte«, rief Karou ihr nach. Sie
wollte
ja darüber reden. Nur zu gern hätte sie Zuzana alles erzählt und sich mit ihr zusammen über ihre beschissene Woche aufgeregt – über die Stoßzähne, den albtraumhaften Tiermarkt, darüber, wie Brimstone sie mit nutzlosen Shings bezahlt hatte, und über das unheimliche Pochen an der anderen Tür. Sie konnte das alles zwar in ihre Skizzenbücher zeichnen, das war wenigstens etwas, aber es war nicht genug. Sie wollte
reden
.
Natürlich kam das nicht in Frage. »Können wir bitte in die GIFTKÜCHE ?«, fragte sie, und ihre Stimme klang mitleiderregend. Zuzana warf einen Blick zurück und sah den Ausdruck, der sich manchmal auf Karous Gesicht ausbreitete, wenn sie sich unbeobachtet fühlte. Es war Traurigkeit,
Verlorenheit
, und das Schlimmste daran war, dass es ihr Normalzustand zu sein schien – als wären alle anderen Gesichtsausdrücke nur Masken, unter denen sie ihre Verlorenheit verbarg.
Zuzana hatte ein Einsehen. »Also gut. Okay. Für Gulasch würde ich sterben. Kapiert? Sterben. Haha.«
Das vergiftete Gulasch war ein alter Witz zwischen ihnen, und jetzt wusste Karou, dass alles in Ordnung war. Für den Moment. Aber was war beim nächsten Mal?
Schirmlos und aneinandergedrängt eilten sie durch den Nieselregen.
»Nur damit du’s weißt«, sagte Zuzana, »der Blödmann hängt in letzter Zeit öfters in der GIFTKÜCHE rum. Ich glaube, er lauert dir auf.«
Karou stöhnte. »Na toll.« Kaz hatte sie mehrmals angerufen und ihr unzählige SMS geschickt, aber sie hatte ihn immer ignoriert.
»Wir könnten woandershin.«
»Nein, ich werde diesem Nagerbraten nicht die GIFTKÜCHE überlassen. Die GIFTKÜCHE gehört uns.«
»Nagerbraten?«
, wiederholte Zuzana.
Das war eins von Issas Lieblingsschimpfwörtern und machte Sinn, wenn man bedachte, dass ihre Schlangenfraudiät hauptsächlich aus kleinen pelzigen Wesen bestand. »Ja. Nagerbraten. Mäusefleisch mit Semmelbröseln und Ketchup …«
»Bäh. Hör auf.«
»Man könnte wahrscheinlich auch Hamsterfleisch nehmen«, sagte Karou. »Oder Meerschweinchen. Wusstest du, dass man Meerschweinchen in Peru am Spieß brät wie Marshmellows?«
»Hör auf.«
»Mmm, jetzt ein
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