Daughter of Smoke and Bone
wahren Adrenalinrausch durch ihr Blut peitschte. In einem plötzlichen Erwachen spürte sie eine ungekannte Leichtigkeit und Kraft in den Gliedern – Kraft, um zu kämpfen oder zu fliehen, wild und unaufhaltsam.
Wer ist das?, war die Frage, die ihre rasenden Gedanken beherrschte.
Und:
Was ist er?
Denn der Mann, der regungslos inmitten des Chaos stand, war offensichtlich nicht menschlich. Ein hitziger Puls schlug in ihren Handflächen, und sie ballte die Fäuste. Ihr Blut kochte.
Feind. Feind. Feind.
Das Wissen hämmerte im Rhythmus ihres Herzschlags durch ihre Adern: Der Fremde mit den Feueraugen war ihr Feind. Sein Gesicht – so schön, perfekt, geradezu
mythisch
– war vollkommen kalt. Sie war hin und her gerissen zwischen dem Drang zu fliehen und der Angst, ihm den Rücken zuzuwenden.
Es war Izîl, der die Entscheidung für sie fällte.
»Malak!«, schrie er und zeigte auf den Mann. »Malak!«
Engel.
Engel?
»Ich kenne dich, Todesvogel der Seele! Ich weiß, was du bist!« Izîl wandte sich Karou zu und beschwor sie eindringlich: »Karou, Tochter des Wunschhändlers, lauf zu Brimstone, so schnell du kannst. Sag ihm, dass die Seraphim hier sind. Sie sind zurückgekommen. Du musst ihn warnen! Lauf, mein Kind. Lauf!«
Und sie rannte, so schnell sie ihre Beine trugen.
Über den Djemaa el-Fna, wo die Menschen, die zu fliehen versuchten, auf die Schaulustigen stießen, die der Tumult angezogen hatte. Sie kämpfte sich ihren Weg durch die Massen, schubste hier jemanden zur Seite, stieß sich dort an der Flanke eines Kamels ab und hechtete über eine zusammengerollte Kobra, die nach ihr schnappte, völlig harmlos, ohne Zähne. Als sie einen Blick zurückwarf, sah sie kein Anzeichen, dass jemand sie verfolgte – dass
er
sie verfolgte –, doch sie spürte es.
Ihre Nerven vibrierten. Ihr Körper war in höchster Alarmbereitschaft. Sie wurde gejagt, sie war die Beute. Nicht einmal ihr Messer, das sonst in ihrem Stiefel steckte, hatte sie heute dabei, denn sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie es für einen Besuch beim Grabräuber brauchen würde.
Sie rannte in eine der Gassen, die von dem riesigen Marktplatz abgingen wie Nebenflüsse von einem See.
Die Menschenmengen in den Souks hatten sich gelichtet, viele Lampen waren gelöscht worden, und so hastete sie leichtfüßig, mit großen, kaum hörbaren Schritten durch die Schatten. Um Zusammenstöße zu vermeiden, nahm sie die Ecken in einem großen Bogen und warf immer wieder Blicke über die Schulter, ohne jedoch jemanden zu entdecken.
Engel.
Das Wort hallte in ihren Gedanken nach.
Schließlich hatte sie das Portal fast erreicht – nur noch eine Abbiegung, eine Seitengasse entlang.
Ein Windstoß von oben. Hitze und das dumpfe Geräusch schlagender Flügel.
Über ihr ballte sich die Dunkelheit zusammen, denn der Mond verschwand hinter der Gestalt, die mit ihren gigantischen Schwingen auf Karou herabstürzte. Hitze, Flügelschlagen – und dann zerschnitt eine Klinge die aufgewirbelte Luft. Karou warf sich zur Seite, prallte heftig gegen eine Holztür, die unter dem Aufprall zersplitterte, und spürte im gleichen Moment die kalte Berührung von Stahl an ihrer Schulter. Blitzschnell griff sie nach einem scharfkantigen Holzstück und wirbelte herum, um dem Angreifer die Stirn zu bieten.
Er stand nur eine Körperlänge entfernt, die Spitze seines Schwertes auf den Boden gerichtet.
Oh, dachte Karou, ohne die Augen von ihm zu lassen.
Oh.
Ein Engel, wohl wahr.
Denn nun sah sie ihn zum ersten Mal in seiner wahren Gestalt. Die Klinge des Langschwerts glitzerte weiß im Licht seiner Flügel – gewaltiger, schimmernder Flügel, die so weit reichten, dass sie die Wände auf beiden Seiten der Gasse streiften, mit Federn wie Kerzenflammen, an denen der Wind zupfte.
Diese Augen.
Sein Blick war wie eine entflammte Zündschnur, die die Luft zwischen ihnen in Brand steckte. Er war das Schönste, was Karou jemals gesehen hatte. Ihr erster Gedanke, unpassend, doch überwältigend, war, dass sie ihn sich genau einprägen wollte, um ihn später zeichnen zu können.
Ihr zweiter Gedanke war, dass es kein Später geben würde, weil er sie töten würde.
Er griff so schnell an, dass seine Flügel Lichtschleier in die Luft malten, und selbst als Karou beiseitesprang, blieb seine feurige Gestalt in ihre Sicht eingebrannt. Sein Schwert streifte sie erneut, dieses Mal am Arm, aber dem tödlichen Stoß konnte sie ausweichen. Sie war schnell. Wenn er versuchte, in
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