Daughter of Smoke and Bone
Skizzenbuch.
»Bitte warte«, heulte Izîl. »Karou. Bitte.«
Sein Flehen war so eindringlich, dass sie einen Moment zögerte. Er wühlte in seiner Tasche, holte etwas heraus und hielt es ihr entgegen. Eine Zange. Sie sah verrostet aus, doch Karou wusste, dass es kein Rost war. Mit diesem Werkzeug ging er seinem Geschäft nach, und was daran klebte, waren Ablagerungen toter Münder. »Bitte, meine Liebe«, sagte er. »Ich habe sonst niemanden.«
Sie verstand sofort, was er meinte, und wich entsetzt einen Schritt zurück. »Nein, Izîl!
Mein Gott.
Die Antwort ist nein,
niemals!
«
»Ein Bruxis würde mich retten! Ich kann mich nicht selbst retten. Ich habe meinen schon verbraucht. Nur ein anderer Bruxis kann meinen närrischen Wunsch rückgängig machen. Du könntest ihn von mir runterwünschen. Bitte.
Bitte!
«
Ein Bruxis. Das war der einzige Wunsch, der noch mächtiger war als ein Gavriel, und so hatte er auch den höchsten Preis: Ein Bruxis wurde mit den eigenen Zähnen bezahlt. Man musste sich sämtliche Zähne ziehen.
Bei der Vorstellung, sich einen Zahn nach dem anderen auszureißen, wurde Karou schummrig.
»Sei nicht albern«, flüsterte sie. Sie konnte kaum glauben, dass er sie so etwas auch nur fragte. Andererseits
war
er geisteskrank, und in diesem Moment sah man es ihm überdeutlich an.
Sie wandte sich ab.
»Ich würde nicht fragen, das weißt du, aber es gibt keinen anderen Weg!«
Mit gesenktem Kopf eilte Karou davon, und sie wäre weitergelaufen ohne zurückzusehen, hätte nicht in diesem Moment ein unmenschlicher Schrei die Luft zerrissen. Er brach aus dem Chaos im Djemaa el-Fna hervor und verschlang sofort alle anderen Geräusche. Es klang wie das Wehklagen eines Wahnsinnigen, ein hoher, ohrenbetäubender Laut, der ihr durch Mark und Bein ging.
Aber er kam definitiv nicht von Izîl.
Das Heulen schwoll an, wurde immer lauter und gellender, brach sich wie eine gewaltige Welle und wurde zu Worten, doch die Sprache war Karou vollkommen fremd, obwohl sie mehr als zwanzig in ihrer Sammlung hatte. Sie drehte sich um, und alle Menschen um sie herum taten es ihr gleich. Die Beunruhigung in ihren Gesichtern verwandelte sich in Panik, als sie erkannten, woher die Laute kamen.
Dann sah Karou es auch.
Das Wesen auf Izîls Rücken war nicht länger unsichtbar.
Todesvogel der Seele
Karou kannte die Sprache nicht, doch Akiva war sie nur allzu vertraut.
»Engel, ich sehe dich!«, schallte die Stimme. »Ich kenne dich! Bruder, Bruder, ich habe meine Strafe abgedient. Ich tue alles, was du verlangst! Ich habe Buße getan, ich bin gestraft genug …«
Verständnislos starrte Akiva auf das Wesen, das auf dem Rücken des alten Mannes erschienen war.
Sein aufgeschwemmter Körper war fast nackt, seine drahtigen Arme schlangen sich fest um den Hals des Menschen. Seine Beine baumelten nutzlos herunter, sein Kopf war lila und angeschwollen, als hätte sich das Blut gestaut und er könnte jeden Moment platzen – ein wahrhaft abscheulicher Anblick. Dass dieses Wesen die Sprache der Seraphim benutzte, war ein Affront gegen die Natur.
Als Akiva bewusst wurde, was die Worte bedeuteten, wandelte sich das Erstaunen, seine eigene Sprache zu hören, blitzschnell in nacktes Grauen.
»Sie haben mir die Flügel ausgerissen, mein Bruder!« Die Kreatur starrte Akiva an, löste dann einen Arm vom Hals des alten Mannes und streckte ihn Akiva flehend entgegen. »Sie haben meine Beine verbogen, damit ich kriechen muss wie ein Insekt. Tausend Jahre sind vergangen, seit ich ausgestoßen wurde, tausend qualvolle Jahre, doch jetzt bist du hier, du bist hier, um mich nach Hause zu bringen!«
Nach Hause?
Nein. Das war nicht möglich.
Einige der Umstehenden wichen erschrocken vor der grausigen Kreatur zurück, andere jedoch wandten sich in die Richtung, in die sie flehentlich den Arm ausstreckte. Als Akiva sich ihrer Aufmerksamkeit bewusst wurde, fixierte er die Schaulustigen mit loderndem Blick, so dass sie sich angstvoll wegduckten und anfingen, Gebete zu murmeln. Doch dann entdeckte er das blauhaarige Mädchen, das ein paar Meter entfernt stand.
Eine ruhige, strahlende Gestalt inmitten der aufgebrachten Menschenmenge.
Und sie erwiderte seinen Blick.
***
Sie starrte in schwarz umrandete Augen in einem sonnengebräunten Gesicht. Aus der flammenden Iris sprühten Funken, die die Luft in Brand zu setzen schienen. Ein elektrischer Schlag durchzuckte Karou – nicht nur ein Schlag, nein, eine Kettenreaktion, die in einem
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