Daughter of Smoke and Bone
brauchte sie zehn Minuten, und ihre Füße brannten jetzt schon vor Kälte. Sie starrte auf die Tür – nicht länger überrascht, als sie darauf einen schwarzen Handabdruck sah – und dachte, sie müsste sich jeden Moment wieder öffnen. Bestimmt würde Issa ihr wenigstens Mantel und Schuhe bringen.
Ganz bestimmt.
Doch die Tür öffnete sich einfach nicht.
Ein Auto rumpelte am Ende der Straße vorbei, und hier und da drangen aus Fenstern Gelächter und hitzige Streitereien, aber niemand war draußen in ihrer Nähe. Karous Zähne klapperten. Sie schlang die Arme um sich, als könnte sie das warm halten, und starrte weiter auf die Tür – sie konnte einfach nicht glauben, dass Brimstone sie hier draußen zurückgelassen hatte. Kalte, schreckliche Minuten verstrichen, und schließlich drehte Karou sich mit Tränen in den Augen um und humpelte auf tauben Füßen in Richtung ihrer Wohnung davon. Die Menschen, denen sie begegnete, machten große Augen, und einige boten ihr Hilfe an, doch sie ignorierte beides. Erst als sie am ganzen Körper zitternd vor ihrer Haustür stand und in ihre Manteltasche greifen wollte, nur um festzustellen, dass keine da war, wurde ihr klar, dass sie keinen Schlüssel hatte. Keinen Mantel, keinen Schlüssel und auch keine Shings, mit denen sie die Tür hätte aufwünschen können.
»Scheiße, Scheiße, Scheiße«, fluchte Karou, und eisige Tränen rannen ihr über die Wangen. Alles, was sie hatte, waren die Scuppies um ihr Handgelenk. Sie nahm einen zwischen die Finger und wünschte sich die Tür auf, aber nichts passierte. Ein Scuppy hatte nicht genug Macht, um Türen aufzuwünschen.
Gerade wollte sie einen Nachbarn wach klingeln, da nahm sie hinter sich eine verstohlene Bewegung wahr.
Inzwischen konnte sie keinen klaren Gedanken mehr fassen, und als eine Hand sich auf ihre Schulter legte, gingen die Nerven mit ihr durch. Sie packte die Hand und warf sich nach vorn. Die Gestalt hinter ihr wurde von den Füßen gerissen – eine Sekunde zu spät erkannte Karou die Stimme, die besorgt frage: »Mein Gott, Roo, alles in Ordnung?« – dann flog Kaz über ihre Schulter und krachte in die Glastür.
Das Glas zerbarst, und Kaz landete mit einem lauten Ächzen auf dem Boden. Karou stand regungslos da und ihr wurde bewusst, dass er dieses Mal gar nicht versucht hatte, sie zu erschrecken, und jetzt lag er rücklings in einem Scherbenhaufen. Sie dachte, sie müsste irgendetwas empfinden – Bedauern? –, aber sie fühlte überhaupt nichts.
Wenigstens war das Problem mit der verschlossenen Tür gelöst.
»Hast du dir weh getan?«, fragte sie ohne echte Anteilnahme.
Er blinzelte nur benommen, und sie ließ einen flüchtigen Blick über die Bescherung schweifen. Kein Blut. Das Glas war in rechteckige Stücke zerbrochen. Kaz war unverletzt. Sie trat über ihn hinweg und bahnte sich einen Weg zum Aufzug. Kaz zu Boden zu werfen hatte sie den letzten Rest ihrer Kräfte gekostet, und sie bezweifelte, dass sie den Weg die sechs Treppen hoch schaffen würde. Also trat sie in den Aufzug und wandte sich Kaz zu, der sich immer noch nicht gerührt hatte. Er starrte sie an.
»Was bist du?«
Nicht
wer
, sondern
was
.
Sie antwortete nicht. Die Aufzugtüren schlossen sich, und sie war allein mit ihrem Spiegelbild, in dem sie sah, was Kaz gesehen hatte. Sie trug nichts als eine klitschnasse Jeans und ein weißes Unterhemd, das durchsichtig auf ihrer Haut klebte. Ihre Haare lagen in blauen Strähnen um ihren Hals, wie Issas Schlangen, und von ihren Schultern hingen lose Verbände mit getrocknetem Blut, unter denen ihre Haut durchscheinend, fast blau wirkte. Zusammengekrümmt stand sie da, zitternd wie ein Junkie. Das alles war schon schlimm genug, aber ihr Gesicht war der Gipfel: Dort, wo sie auf den Stuhl gekracht war, war ihre Wange dick angeschwollen, und ihre Augen lagen tief im Schatten. Sie sah aus wie jemand, um den man einen weiten Bogen machen würde. Sie wirkte … sie wirkte, als wäre sie nicht ganz menschlich.
Die Aufzugtüren öffneten sich wieder, und sie schleppte sich den Gang hinunter. Sie musste durch ein Fenster auf ihren Balkon klettern und dort eine der Scheiben ihrer Balkontür einschlagen, um in ihre Wohnung zu kommen. Kurz bevor ihre Kräfte sie endgültig verließen, schaffte sie es, und endlich drinnen, streifte sie ihre nassen Klamotten ab, schleppte sich ins Bett, wickelte sich in eine Decke, rollte sich zusammen und ließ den Tränen freien Lauf.
Wer bist du?
, fragte
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